„Pizza selbst machen“ lautete das Motto für unseren DVD-Abend. „Zutaten selbst kaufen“ geht dem selbstverständlich voraus. „Gemeinsam dafür losfahren“ war der Vorschlag von Maries Mutter, die ebenfalls noch
einkaufen wollte und uns damit anbot, beim Einkaufswagen schieben behilflich zu sein. Und beim Tragen. Und beim Herunterholen der besten Sachen aus den obersten Regaletagen. (Was sind Regale-Tage?!)
Mal nicht selbst fahren zu müssen, kann auch entspannt sein, und so blödelten wir auf der Rückbank herum, während Maries Mama die Familienkutsche in Richtung Einkaufscenter lenkte. Während wir an einer Kreuzung auf grün warteten, fiel mein Blick auf einen Typen, geschätzte 50 Jahre alt, der sich an einem Ampelmast auf der gegenüber liegenden Straßenseite festhielt. Die übrigen Leute machten einen großen Bogen. Dann torkelte er los, nicht über die Straße, sondern weiter den Gehweg entlang, ging zwischen zwei Autos hindurch. Suchte seinen Schlüssel.
Ich sagte: „Guck mal da drüben, will der jetzt Auto fahren? Der ist doch völlig breit.“ – Maries Mutter antwortete: „Bei seiner Gesichtsfarbe würde ich eher auf Herzprobleme tippen.“
Sekunden danach hielt sich der Mann an seinem (?) Auto fest und rutschte langsam auf den Boden. Setzte sich unsanft hin, griff sich mit beiden Händen an die Brust, guckte ängstlich aus der Wäsche. Verzerrte das Gesicht. Maries Mutter seufzte. Bog über die immernoch rote Ampel nach rechts ab, wechselte in den Fahrstreifen des Gegenverkehrs, blieb direkt vor dem Typen stehen und schnallte sich ab. Autos kamen auf dieser kleinen Straße gerade keine, dafür waren aber jede Menge Fußgänger unterwegs. Ein junger Mann, um die 18, mit Augenbrauenpiercing, Vollbart, schwarzen Lederstiefeln, schwarzer Jeans und langem grauen Stoffmantel, kniete sich bereits zu ihm. Marie fragte:
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
Maries Mutter sagte: „Notarzt. Hundertzwölf.“ – Sie stieg aus. Marie machte das Fenster runter. Während sie wählte, fragte sie: „Was soll ich
denen sagen? Kreislaufprobleme?“ – „Herzinfarkt. Und wenn er diskutieren will, gibst du ihn mir.“ – Im selben Moment: „Ja, guten Tag,
mein Name ist Marie …, wir sind im …weg vor Hausnummer 1, da ist gerade
ein Mann zusammengebrochen, meine Mutter ist Ärztin und kümmert sich um
den, sie meint, ich soll den Notarzt rufen, er hat wohl einen Herzinfarkt.“
Maries Mutter war gerade von dem Typ im grauen Mantel angesprochen worden: „Lassen Sie mal, ich bin Ersthelfer!“ – Maries Mutter antwortete: „Ich bin Ärztin. Können Sie mir helfen und dort in die Praxis laufen und fragen, ob die einen Notfallkoffer haben?
Kurz darauf kam er mit zwei Frauen raus. Eine, geschätzt über 60 mit Stethoskop um den Hals, eine junge Frau Anfang 20, einen roten Rucksack über die Schulter hängend. Die Frau sagte: „Da haben Sie Glück, wir sind
eigentlich nur noch mit Papierkram beschäftigt. Was hat er denn? Sie sind Kollegin? Oh bitte machen Sie, ich assistiere Ihnen. Ich habe den Rucksack noch nie benutzt, nur einmal reingeschaut, als wir den angeschafft haben.“
Als der Rettungswagen zwei Minuten später mit Blaulicht um die Ecke kam, hatte der Typ immerhin schonmal einen Venenzugang und einen freigelegten Oberkörper. Die Sanitäter holten das mobile EKG-Gerät aus dem Wagen. Die ältere Ärztin stand auf: „Auf der Erde rumkriechen tut meinem Ischias alles andere als gut. So ein Mist.“
Nun kam der Hammer: Das EKG ließen sie Maries Mutter noch ankleben und anschließen. Als sie dann aber, nachdem sie sich das angeguckt hatte, den Sanitäter fragte: „Können Sie mir … und … und … aufziehen bitte und die Trage vorbereiten? Der Patient muss schnell in die Klinik?“ sagte dieser: „Ich möchte erstmal Ihren Ausweis sehen. Das eine
ist ein Betäubungsmittel, ich komme in Teufels Küche, wenn ich mich nicht vorher vergewissert habe und sich hinterher rausstellt, dass Sie keine Ärztin sind.“
Maries Mutter guckte ziemlich doof aus der Wäsche. Der Typ stand schulternzuckend neben ihr. Die andere Ärztin, die am Auto lehnte und sich den Rücken hielt, sagte: „Geben Sie mal her.“ – Der Sanitäter sagte: „Nee, Sie auch nicht. Eine weiße Hose ändert nichts an den Tatsachen.“
Maries Mutter legte also selbst Hand an. In dem roten Rucksack von der älteren Ärztin waren die benötigten Medikamente scheinbar auch drin.
Sie nahm eine Glasampulle raus und drückte sie der älteren Kollegin in die Hand. – Der Sanitäter antwortete kleinlaut: „Ist ja schon gut.“ – Maries Mutter sagte: „Ich bin jahrelang selbst Notarztwagen gefahren, Sie müssen keine Angst um Ihren Job haben. Mein Ausweis liegt im Rucksack und der liegt hinter zwei Rollstühlen im Kofferraum, dafür haben wir jetzt keine Zeit, okay? Der Zustand des Patienten ist absolut lebensbedrohlich. Ist eigentlich der Notarzt mit Euch ausgerückt?“
„Disponiert ist er, aber es ist wohl im Moment keiner verfügbar. Ich denke, der nächste freie kommt so schnell wie möglich nach. Heute ist der Teufel los.“ – Ende vom Lied: Nachdem sie den Typen, der inzwischen nicht mehr ansprechbar war, in den Rettungswagen verladen hatten, fuhr Maries Mutter im Rettungswagen mit ins Krankenhaus. Die andere Ärztin sammelte den Müll von der Fahrbahn und machte den Rucksack zu, ging wieder in ihre Praxis und wir standen wie doof entgegen der Fahrtrichtung mit dem Auto auf der Straße. Und konnten es nicht wegfahren, da es ein Schaltwagen ist. Und an unsere Rollstühle kamen wir
auch nicht. Immerhin konnte Marie so weit nach vorne durchkrabbeln, dass sie den Motor ausmachen und das Warnblinklicht einschalten konnte. Irgendwann würde Maries Mutter sicherlich mit dem Taxi zurück kommen, wir hatten ja Zeit.
Vorher kam aber noch: Richtig, die Polizei. Ein Streifenwagen hielt an. Nach kurzer Diskussion fuhr einer der Beamten das Auto in eine Parklücke, räumte uns die Rollstühle aus dem Auto und so konnten wir zumindest schonmal einkaufen fahren. Ohne eine Helferin, die uns beim Einkaufswagen schieben behilflich war. Und beim Tragen. Und beim Herunterholen der besten Sachen aus den obersten Regal-Etagen.