Hexen und Vibratoren

Kurz vor meinem letzten Aufenthalt in der Klinik saß ich mit einer anderen Rollstuhlfahrerin zusammen in einem öffentlichen Linienbus, genauer gesagt in der Linie 232. Die Frau, geschätzt etwas älter als ich, saß in einem elektrisch angetriebenen Rollstuhl. Auch wenn ich nicht automatisch jede Rollstuhlfahrerin und jeden Rollstuhlfahrer, der in öffentlichen Verkehrsmitteln neben mir steht, anspreche, und auch selbst keinen gesteigerten Wert darauf lege, dass sie oder er mich anspricht, kamen wir ins Gespräch. Ich erfuhr eher beiläufig von ihrer Erkrankung, einer spinalen Muskelatrophie.

Es war davon auszugehen, dass diese Frau niemals laufen, vielleicht sogar niemals alleine sitzen lernen konnte. Entsprechend unproportional war ihr Körperbau. Ein im Verhältnis riesiger Kopf zu einem schmalen, kurzen Rumpf und eher kurzen Armen und Beinen ist natürlich der Tatsache geschuldet, dass Knochen kaum wachsen, wenn sie nicht bewegt (und durch die gegensätzlichen Muskeln in die Länge gezogen) werden, salopp ausgedrückt.

Mir fiel ein Mädchen auf, vielleicht 5 oder 6 Jahre alt, das uns gegenüber an der Tür des Busses lehnte und uns anstarrte, wenngleich es um größtmögliche Unauffälligkeit bemüht war. Kurz darauf kam die Mutter dazu, nahm das Mädchen an die Hand – der Bus war kurz vor jener Haltestelle, an der die beiden aussteigen mussten. Das Mädchen sagte zu ihrer Mutter: „Mama, ich habe Angst vor der Frau mit der blauen Jacke. Das ist bestimmt eine Hexe.“

Die Mutter war sichtlich bemüht, zu hoffen, dass das niemand gehört hatte. Man merkte, wie sie angestrengt versuchte, die letzten zehn Sekunden bis zum Aussteigen möglichst schnell vergehen zu lassen, und vermutlich haben sie für diese Frau, die unsere Blicke in ihrem Rücken gespürt haben musste, endlos gedauert. Okay, die Mutter kann nur begrenzt etwas dafür, wenn das Kind so etwas äußert, und ich bin mir sicher, das wurde hinterher aufgearbeitet. Ich hoffe nur, mit einer Erklärung und nicht mit einem Verbot.

Insofern bin ich sehr froh, nicht von Geburt an im Rollstuhl zu sitzen. Dadurch konnte ich zwar mal laufen und muss, nach ihrem Wegfall, diese Fähigkeit entsprechend auch stärker vermissen als all jene Rollifahrer, die das nie konnten – gleichwohl sorgte diese Fähigkeit aber bei mir für halbwegs unauffällige Körperproportionen und setzt mich nicht der Gefahr aus, dass kleine Kinder mich als Hexe sehen.

Ich finde es krass. Ich habe das zum ersten Mal so heftig selbst miterlebt. Dass Leute starren oder beschämt weggucken, ist nichts neues.
Obwohl ich es nicht verstehen kann: Selbst vor meinem Unfall hätte ich vielleicht interessiert geguckt, ich hätte vielleicht nicht verstanden, warum die Körperproportionen anders sind, warum jemand verwaschen redet,
sabbert oder laut schreit. Aber ich hätte das als Individualität eines Menschens zur Kenntnis genommen. Mit Sicherheit nicht so bezeichnet, aber so wahrgenommen. Berührungsängste ja, bestimmt, in Form einer ausgeprägten Distanz, wie ich sie auch zu anderen, nicht behinderten Menschen hatte. Aber Furcht und Schrecken?

Vielleicht hatte ich inzwischen „zu viel“ mit Menschen zu tun, die eine Behinderung haben. Vielleicht erlaubt mir mein gelebter offener Umgang mit meiner Behinderung aber auch, inzwischen über viele Ängste und Vorurteile meiner Umwelt hinweg zu sehen. Vielleicht habe ich durch diesen Blog viele dieser Ängste und Vorurteile kennen gelernt, vielleicht hat ein zunehmend offenerer Umgang unter Menschen mit und ohne Behinderungen inzwischen die eine Angst oder das andere Vorurteil abgebaut.

Und doch hat mich ein Fernsehbeitrag im ZDF zum Thema Sexualität und Behinderung vor kurzem wieder auf den Boden der Tatsachen zurück geholt.
Drei junge Frauen, ebenfalls mit spinaler Muskelatrophie, erzählten, dass ihr (behinderter) Körper oft erstmal als ein zu therapierender Körper wahrgenommen wird, der eine medizinische Herausforderung darstellt; aber nicht mit Lust oder Sinnlichkeit in Verbindung gebracht wird.

Im ersten Moment dachte ich: Toll. Ein aufklärender Beitrag, der mal das eine oder andere Tabu beleuchtet und somit für ein bißchen mehr Nähe sorgt. Aber dann kam die Ernüchterung, als die Sprecherin erzählte: „Heute steht für die drei ein besonderer Ausflug an, zum Frauen-Sexshop in Köln.“ – Und damit war bei mir alles vorbei. Warum ist das bitte ein besonderer Ausflug? Alleine das Wort „Ausflug“ impliziert in diesem Zusammenhang ja schon eine Befreiung aus einem Käfig. Und die ist dann auch noch außergewöhnlich, besonders. Scheiße. Also doch keine Normalität. Sondern etwas verkrampftes.

Klar, ein Besuch im Sexshop bricht ein mehr oder weniger großes Tabu.
Egal, ob man als Rollstuhlfahrerin oder Fußgängerin dort auftaucht. Und ich hoffe, lediglich darauf bezog sich dieser Satz. Denn das Tabu darf es gerne auch dann noch geben, wenn alle geschnallt haben, dass eine Behinderung keinen Einfluss darauf nimmt, ob jemand einen Vibrator haben
möchte oder nicht.


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