„Sagt mal, ihr studiert doch Medizin, könnt ihr mich nicht mal eine
wirksame Abnehmpille verschreiben?“, war der zwar betont scherzhaft formulierte, wohl aber mit mindestens einem Funken Ernst gemeinte Versuch unseres knapp 40 Jahre alten Nachbarns, ein paar überflüssige Pfunde ohne großen Aufwand loszuwerden. Oder der, ein Gespräch über ein Thema zu beginnen, das ihn zunehmend belastet. Oder beides.
Tatsächlich schüttete er Marie und mir in einem anschließenden langen
Gespräch sein Herz aus. Und ja, ich darf darüber schreiben, und ich finde es auch wichtig, darüber zu schreiben. Ich finde es so unglaublich, weil ich die Einstellung, die dahinter steht, für mich überhaupt nicht nachvollziehen kann. Ich sage bewusst, dass ich sie nicht nachvollziehen kann. Ich sage aber auch, dass ich sie ausdrücklich
nicht verurteile. Jeder Mensch ist meiner Meinung nach für sich selbst verantwortlich. Aber so, wie es aussieht, konnten Marie und ich ihm bei dieser Verantwortung ein wenig unter die Arme greifen – und das gibt mir
schon ein gutes Gefühl. Und die Überzeugung, dass alleinige Verantwortung nicht heißen muss, dass man sich zu allem auch selbst motivieren kann.
Dieser Mann ernährt sich seit 20 Jahren nahezu ausschließlich von Pizza, Pommes, Süßigkeiten und Cola. Das Frühstück fällt in der Regel aus, zum Mittag gibt es entweder eine Tiefkühlpizza oder Fleisch aus dem
Supermarkt mit Pommes aus dem Backofen. Oder unterwegs eine Currywurst mit frittierten Pommes. Pro Woche gibt es im Durschnitt zwei Mal Fleisch, zwei Mal Pizza und drei Mal Currywurst. Dazu trinkt er ausschließlich Cola, pro Tag zwei bis drei Liter. Zum Abendessen holt er
sich meistens Brötchen zum Aufbacken und belegt vier Stück davon (also
acht Hälften) ausschließlich mit Salami. Abends, vor dem Einschlafen, isst er im Bett entweder eine Tüte Chips, eine Tüte Erdnussflips oder eine Tüte Popcorn. Zwischendurch, wenn der kleine Hunger kommt, gibt es Snickers, Schokolade oder irgendwelche Gummitiere. Pro Woche, so sagt er, kommt er auf zwei Tüten Chips, zwei Tüten Erdnussflips, drei Tüten Popcorn, zehn Tüten Gummibären oder Lakritzviecher und drei Fünferpacks Snickers oder Twix.
Sein Glück ist wohl, dass er als Kind eher untergewichtig war. Damit steigen Studien zufolge die Chancen auf eine nachhaltige Gewichtsreduktion. Sein Glück ist auch, dass er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten stets aktiv bewegt hat und keinen Alkohol trinkt. Anlass für das Gespräch mit uns war wohl, dass er beim Wiegen festgestellt hat,
dass sein BMI an der 30er-Grenze kratzte. Jene Grenze, die, wenn man dieses eher ungenaue und nicht alle Faktoren berücksichtigende Verfahren
anwendet, für den Übergang vom Übergewicht zur Adipositas steht.
Sein letzter Versuch abzunehmen scheiterte kläglich. Er hatte lediglich die Cola durch Apfelsaft ersetzt, denn Apfelsaft sei ja gesund. Und wenn schon gesund, dann auch ohne Zusatzstoffe: 100% Frucht.
Dass das bei Gewichtsreduktion hilft, ist ein oft gehörter Irrtum. Das Gegenteil ist der Fall. Denn unverdünnter Apfelsaft enthält mindestens genauso viel Zucker wie Cola, eher noch mehr.
Wir haben ihn in die Praxis von Maries Mutter geschleift und zumindest einmal Blut abgenommen und den Blutdruck gemessen. Die Cholesterinwerte waren besser als ich vermutet hatte, zumindest war verhältnismäßig viel „gutes“ Cholesterin im Blut. Aber der Triglyceridwert war heftig. Maries Mutter sagte ihm klar ins Gesicht, dass sein Risiko, in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu bekommen, bei über 35% liege. Ich glaube, das hat ihn aufgeweckt.
Zwei Wochen danach kam er auf uns zu und meinte, er trinke seitdem keine Cola mehr, nur noch Wasser. Er habe seitdem keine Süßigkeit und kein Knabberzeug mehr angerührt, in keinem Imbiss mehr gegessen und beschränke sich auf drei bis vier Hauptmahlzeiten. Eine Scheibe frisches
Bio-Brot mit Putenfleisch, morgens Müsli mit Erdbeeren oder ungezuckerter Ananas – lediglich ausgewogenes Mittagessen sei noch nicht
so sein Ding. In der Apotheke habe man ihm Brausetabletten gegeben, um Vitamin- und Mineralstoffmangel vorzubeugen.
Heute, vier Wochen nach dem Startschuss, ist sein BMI von ehemals 29,5 auf nun 27,7 gesunken. Inzwischen kaufen wir füreinander ein, bringen uns gegenseitig Erdbeeren, Ananas, Gurken, Tomaten, Brot und Fleisch mit und haben auch schon mehrmals zusammen gekocht. Während ich immernoch zunehmen muss, klappt es bei ihm mit dem Abnehmen nach wie vor. Er sagt: „Die ersten fünf Tage waren insbesondere wegen des Koffein-Entzugs eine Qual.“ – Aber inzwischen vermisse er nichts mehr von alledem, was vorher so verlockend war. In seinem Kühlschrank werden seit vier Wochen zwei Colaflaschen gekühlt. Im Schrank liegen mehrere seit Wochen ungeöffnete Snickers-Packungen, Chipstüten und ähnliches. Neulich habe eine Freundin ihm im Kino ein paar Gummibärchen in die Hand
gedrückt: Nach fünf Stück war Schluss. Viel zu süß.
Insbesondere gehe es ihm körperlich inzwischen sehr viel besser. Aber
alles das war einst gar nicht das Ziel. Er sagt, er habe sich einfach überlegt: „Jetzt ist der richtige Moment.“ – Und dann von einem Tag auf den anderen alles komplett umgestellt.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer das ist. Ich kann mir aber auch bereits nicht vorstellen, mich so zu ernähren, wie er es einst getan hat. Ich kann mir allerdings sehr wohl vorstellen, dass es enorm schwierig ist und ungeheure Selbstdisziplin und Stärke verlangt, wenn man eine solche Gewohnheit konsequent ändern möchte. Marie und ich sind uns einig: Wir wünschen ihm, dass er es durchhält und auch nach Erreichen seines Ziels auf einem für ihn guten Level bleibt.