Das Problem mit meinem Vater ist gar nicht mal, dass er mir nicht zuhört. Wenn ich das will, hört er mir zu. Aber er will meine Behinderung nicht akzeptieren.
Beispiel: Ich brauchte früher eine Zahnspange. Fast alle in der Schule brauchten die. Am Anfang fand ich die saucool. Ich war richtig stolz auf die Zahnspange. Ich wollte auch immer mal einen Gipsarm haben, als ich 10 oder 12 war. Aber immer, wenn das Gespräch in die Richtung ging (Zahnspange), kam von meinem Vater: Auf sowas ist man nicht stolz. Man soll froh sein, wenn man gesund ist. Das ist alles Teufelszeug. Für ihn ist es eine Schwäche, wenn man Hilfe oder Unterstützung oder Medikamente braucht.
Ich hatte eine Freundin mit Diabetes. Die musste sich immer Spritzen geben mit so einem Pen (sah aus wie ein Kugelschreiber und hatte vorne eine nadel dran). Die hatte auch so ein Gerät dabei, wo man mit einem Tropfen Blut messen konnte, wie hoch der Zuckerwert gerade ist. Das fand
ich auch spannend. Ich wollte nie tauschen! Aber spannend fand ich das.
Ich habe sie sehr bewundert, weil sie trotz ihrer Krankheit viel sportlicher war als ich, viel hübscher war als ich und überall beliebt war und das so wegsteckte! Bei ihr traute sich kein Junge, dumme Sprüche
zu machen. Andererseits durfte die auf keiner Party fehlen. Sie war Klassensprecherin seit der 5. Sie war öfter mal bei mir zu Hause. Einmal
erzählte ich meinem Vater von ihrer Krankheit. Er hat mich sofort angefahren, er will das nicht hören, das ist schlimm genug wenn jemand sowas hat, das schmückt man nicht noch aus. Hätte ich ihm erzählt, dass wir meinen Zuckerwert auch mal gemessen hatten, ich glaube, er wäre explodiert.
Meine Uroma (ist schon im Himmel) hat bis zum Schluss (bis auf die letzten 3 Monate) immer bei sich zu Hause gewohnt. Am Ende kam sie gar nicht mehr raus, weil sie gebrechlich war. Sie war auch inkontinent und hat überall hingemacht. Sie konnte sich auch nicht mehr alleine duschen.
Das stank da in der Wohnung! Was hat mein Vater gemacht? Einen Fliegenfänger an die Stubenlampe gehängt. Sie kam nicht mehr rechtzeitig
bis zum Klo. Ganz am Ende hat sie nur noch im Sessel gesessen. Wenn das
da nass war, hat sie sich auf den Stuhl gesetzt. Das war einfach nur noch traurig. Ganz zum Schluss kam sie ins Heim, da wusste sie aber sehr
schnell nicht mehr, wo sie ist und was Sache ist. 3 Monate später ist sie gestorben.
Ich habe mal vorsichtig gefragt, ob man da nicht mal was machen kann.
Da war ich vielleicht 12. Das wurde totgeschwiegen! Kein Gespräch möglich. Das geht mich nichts an…
Als meine Tante im Krankenhaus lag (die mit der Currywurst) und meine
Oma sie besuchte (mit mir), fragte Oma, ob sie für den nächsten Besuch etwas einkaufen soll. Sagte meine Tante: „Kamm.“ Ich dachte mir dann so:
Für was braucht die denn nun noch einen Kamm? Da liegt doch einer am Waschbecken und 2 Bürsten … egal. Ich habe auf dem Rückweg meine Oma gefragt, die meinte dann: „Na einen gröberen!“
Beim nächsten Mal war ich wieder dabei und habe meine Oma drei mal erinnert: „Denk an den Kamm!“ – „Hab ich schon.“ Dann kamen wir da an und meine Oma packte paar Sachen aus, die sie gewaschen hatte und dann: „Den Rest lasse ich hier drin, wo soll die tüte hin?“ – „Ja tu mal mit in den Schrank.“
Ich dachte so: „Häh? Wieso den Kamm denn nicht gleich zu den anderen Sachen ans Waschbecken?“ Egal.
Dann
sollte ich die Nummer aufschreiben, meine Tante hatte Telefon am Bett. Meine Oma gab mir Zettel und Stift. Sie hatte ihre Brille nicht mit oder
nicht in der Nähe. Es war ein Einkaufszettel, auf der Rückseite von meiner Oma beschrieben. Eine Sache war: „Cam.“ Nach 2 Minuten Grübeln hatte ich es verstanden: Der Kamm war kein Kamm, sondern Damenbinden von
Camelia. Aber das durfte die kleine Stinkesocke nicht wissen. Sie war ja erst 12.
Ich bin nie aufgeklärt worden. Warum das blutet, habe ich in büchern gelesen. Meine Binden und später Tampons hatte ich bei mir im Zimmer versteckt. Auch noch als ich 15 war. Wenn was daneben ging bei der Regel, hab ich die Unterhose selbst ausgewaschen oder weggeschmissen. Und so weiter.
Ich weiß echt nicht, ob ich noch so engen Kontakt mit meinen Eltern will. Ich glaube, ich schaff das nicht. Vielleicht ist es besser, einfach locker und oberflächlich in Kontakt zu bleiben und für alles andere enge Freunde zu suchen.