Am gestrigen Freitag sollte es nach Hause gehen. Es war alles organisiert. Viele Sachen habe ich schon selbst mit in mein neues Zuhause genommen, die letzten Dinge und mich wollte Sofie mit dem Auto abholen. Um 11 Uhr sollte ich entlassen werden. Pünktlich um 10 vor 11 kam Sofie in mein Zimmer.
Da der Arztbrief noch nicht fertig war, rollten wir dann um 13 Uhr erstmal in die Kantine. Um kurz vor 15 Uhr war er endlich fertig. Ich verkneife mir jeden Kommentar, denn eigentlich hatte ich gute Laune. Hätte ich um 11 gewusst, dass ich noch vier Stunden warten müsste, hätte
ich darum gebeten, mir das Ding mit der Post nach Hause zu schicken. Aber da es immer hieß, die Papiere wären jeden Moment fertig, haben wir gewartet und gewartet. Arme Sofie.
Ein letztes Mal die wichtigsten Leute knuddeln und dann bloß raus aus
dem Krankenhaus und runter vom Klinikgelände. Als wir in der WG ankamen, waren wir die einzigen. Alle anderen waren entweder arbeiten, studieren oder beim Training. Umso mehr habe ich mich über einen Willkommens-Kuchen gefreut, der auf dem Küchentisch stand. Mit Kerzen und mit Zuckerguss-Schrift. Ich kam mir vor wie am Geburtstag…
Ich verschwand in meinem Zimmer. Für einen Moment wusste ich nicht, was ich machen sollte. Alles so ungewohnt, alles so neu. Ich überlegte, mich einen Moment auf mein Bett zu legen, doch da klingelte mein Handy. Simone war dran und wollte wissen, ob ich heute nacht mittrainieren möchte. Bitte was? Ja, heute nacht ist Schnellfahr-Training. Nachts? Ja,
Straßentraining geht nur nachts, wenn kein Verkehr ist. Aileen, die eine Trainerin, hätte einen Rennrollstuhl für mich organisiert, den ich erstmal ausleihen dürfte, bis ich irgendwann mal einen eigenen habe. Gebraucht, etwas älter, aber so halbwegs nach meinen Maßen, gereinigt und noch voll funktionsfähig.
Ich ließ mich natürlich nicht zweimal fragen. Aber Simone meinte, ich
bräuchte unbedingt noch vernünftige Trainingsbekleidung. Die Baumwollhose vom Trainingslager wäre absolut ungeeignet. Für den Anfang hat die gereicht, aber Straßentraining bedeutet, dass man ein paar Stunden fest angegurtet in einem engen Sportgerät sitzt. Da darf es keine Falte geben, sonst hat man sofort eine Druckstelle, die ja bekanntermaßen bei Querschnittlähmungen erstmal Wochen braucht, um wieder zu verheilen. Ob wir uns in der City treffen wollen zum Einkaufen.
Wollten wir. Vom Hauptbahnhof fuhren wir in die Spitaler Straße. Mitten in der Fußgängerzone stand ein Typ mit einem riesigen (2 Meter hohen) Holzkreuz in der Hand und predigte lautstark. Ich hörte nur mit einem Ohr zu, aber als wir an ihm vorbei düsten, erwähnte er, dass Gott auch die Lahmen und Kranken heilen könnte, wenn man sich ihm („mir“) anvertraut. Ja nee, ist klar. Dass Gott das kann, mag ja sein -ich will es ihm zumindest nicht absprechen-, aber dass er dafür den Typen als Medium nimmt, wollte ich dann doch nicht so recht glauben.
Wir kamen im Sportgeschäft an. Was suchten wir eigentlich? Eine lange
Bike-Hose ohne Gesäßbesatz, aber mit Trägern. Lang, damit die kaum durchbluteten Beine nicht frieren. Ohne Gesäßbesatz (also ohne Lederpolster am Po), da man ja nicht im Sattel sitzt und das Ding nur hinderlich ist. Und mit Trägern, damit die ganze Hose nicht irgendwann (unbemerkt) runterrutscht. Okay, ich habe das verstanden. Die Verkäuferin in dem Sport-Fachgeschäft jedoch nicht. Wir kamen nicht mal dazu, selbst zu schauen, da sie sich sofort aufdrängte und eine Hose nach der nächten anschleppte, allerdings immer mit Lederbesatz am Hintern. Nachdem Simone inzwischen zum 5. Mal erklärte, dass wir eine Hose ohne so ein Ding suchen, meinte sie: „Aber das muss doch gepolstert
sein am Sattel.“ Sie hat es nicht verstanden, dass wir als Rollstuhlfahrer nicht auf einem herkömmlichen Rennrad sitzen. Irgendwann
haben wir selbst gesucht und dann so etwas gefunden.
89 Euro? Wahnsinn. Aber die anderen Mädels beim Trainingslager hatten
so etwas auch und das mit den Druckstellen ist wirklich nicht zu unterschätzen. Ein Kurzarmtrikot und eine winddichte Weste waren auf jeweils 49 Euro herabgesetzt. Bei der Weste schlug Simone auch gleich zu.
Anschließend habe ich Simone noch auf ein Eis (zum Mitnehmen) eingeladen, bevor wir dann in den Bus stiegen und uns zurück zum Hauptbahnhof fahren ließen. Im Bus sprach uns prompt eine ältere Frau an. Sie kam eilig auf uns zu und fragte: „Wieso sitzt ihr beiden im Rollstuhl?“ Bevor ich überlegen konnte, ob ich der wildfremden Frau meinen Unfall unter die Nase reiben will, antwortete Simone: „Entschuldigung, aber ich möchte mich nicht mit Ihnen unterhalten.“ Die Frau erwiderte: „Wie alt bist du? 14 Jahre? Du solltest antworten, wenn Erwachsene dich etwas fragen.“
Was ist denn jetzt los? Augenblicklich schlug mir mein Herz bis zum Hals. Meine Hände fingen zu zittern an. Was wollte die von uns? Simone schaute schräg hinter sich aus dem Fenster. Ich bemühte mich, die Frau nicht anzuschauen. An der nächsten Station stieg sie aus. „Leute gibts…“, meinte Simone kopfschüttelnd.
Erste richtige Nacht in der WG und gleich wird so halbwegs durchgemacht: Um 2 Uhr werde ich zum Training abgeholt. Ich bin aufgeregt wie lange nicht mehr.