Eine neue Hausärztin

Irgendwann werde ich bestimmt nochmal krank. Die nächste fette Erkältung, die Schweinegrippe oder ein Magen-Darm-Infekt sind nur eine Frage der Zeit. Eine wunde Stelle an den Beinen oder eine Blasenentzündung bekommt man mit Querschnitt schneller als ohne – schön, wenn man dann einen guten Hausarzt hat. Nach meiner Krankenhausentlassung bin ich erstmal zurück zu dem Arzt, der mich auch vorher als Hausarzt behandelt hatte. Allerdings gehen dorthin auch meine Eltern, er hat von Querschnittlähmungen kaum Ahnung und meinte gleich, es besser zu wissen als die Fachklinik, die mich ein Jahr lang behandelt hatte. Also allerhöchste Zeit, sich einen neuen Hausarzt zu suchen.

So etwas funktioniert natürlich am besten durch Empfehlungen. Sofie hatte mir eine Internistin empfohlen, die zwar auf der anderen Seite von Hamburg praktiziert, jedoch eine Tochter im Rollstuhl haben und super nett sein soll. Ich wollte mir das zumindest mal ansehen und hatte um einen Termin gebeten. Am liebsten wäre ihr montags früh vor der regulären Sprechstunde, da wäre am meisten Zeit. Also musste ich heute um halb 6 aufstehen, um pünktlich um 7 Uhr dort aufzuschlagen.

Ich bin mit dem Auto hingefahren (medizinische Behandlung), habe es auch gleich gefunden. Ein großes Einfamilienhaus, ich schätze 5 Jahre alt, sehr gepflegt, mitten im Wohngebiet. Die Tür war verschlossen, also
wartete ich davor, machte die Augen zu und ließ mir die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen. Nach zwei Minuten schloss jemand von innen die Tür auf und streckte einen Kopf um die Ecke. „Sind Sie Jule?“

Die Frau war schätzungsweise Anfang 40, wirkte aber jünger und vor allem recht sportlich und sehr gepflegt. Schulterlange, dunkle Haare, Brille, eher groß, sonnengebräunte Haut, weiße Hose, weißes Top und … barfuß. Sah noch etwas verschlafen aus, hielt mir die Tür auf, gab mir die Hand und meinte: „Karte und so machen wir alles später, ist noch keiner weiter da. Sie können gleich durchfahren.“

Ja, der erste Eindruck war nicht schlecht. Holzfußboden, große Bilder an den Wänden, teilweise mit großen Foto-Postern, teilweise mit Comic-Bildern, ein Ottifant beim Arzt, ich konnte aber im Vorbeifahren nicht lesen, worum es ging – es wirkte eher liebevoll eingerichtet und -trotz einzelner Comiczeichnungen- nicht kitschig. In ihrem Behandlungszimmer standen neben den üblichen Dingen wie Liege, Schreibtisch und paar Stühle auch noch ein großes Bücherregal an der Wand. Gut gefüllt. Auf der Fensterbank stand ein Schädel, dem jemand eine Schirmmütze verkehrtherum aufgesetzt hatte.

Ich war aufgeregt ohne Ende. Ich erzählte ihr, dass ich nach meinem Unfall auf der Suche bin nach einem Hausarzt, weil der bisherige sich mit Querschnittlähmungen irgendwie nicht so gut auszukennen scheint. Sie
hakte gleich ein: „Wie kommen Sie darauf?“ Ich erzählte ihr, dass er die Therapie-Empfehlungen des Krankenhauses nicht übernehmen wollte. Er wollte die Tablettendosis halbieren und die Krankengymnastik nur für einen Monat pro Quartal aufschreiben.

Sie runzelte die Stirn und meinte: „Okay?!“ Und dann fragte sie, wie ich auf sie gekommen sei. „Meine Mitbewohnerin Sofie hat Sie mir empfohlen. Ich soll Sie grüßen.“ – „Ach, die Sofie, na das ist ja nett. Mit der wohnen Sie jetzt zusammen? Dann grüßen Sie sie mal lieb zurück.“

Ich hatte ihr die ganzen Berichte vom Krankenhaus und von der Unfallkasse und von der Versicherung und vom Gerichtsverfahren mitgebracht, sie sollte sich selbst raussuchen, was sie kopieren möchte. „Sehr ordentlich“, meinte sie. Sie wollte wissen, wieso ich in einer WG wohne, also erzählte ich ihr von meinen Eltern. Sie wollte wissen, ob Sofie meine einzige Freundin ist, also erzählte ich ihr von den Leuten, mit denen ich Sport mache und von Cathleen und von der WG. Sie wollte wissen, ob ich noch zur Schule gehe, also erzählte ich ihr von meinen Schulplänen. Sie wollte wissen, ob ich eine Beziehung habe, also erzählte ich ihr, dass ich mich damit noch sehr überfordert fühle. Sie stieg sofort drauf ein. „Was überfordert Sie genau?“

Ich erzählte ihr, dass ich zwar nicht aktiv suche, aber mich schon auf eine Beziehung einlassen würde, wenn der richtige vor mir steht. Aber ich war noch nie mit einem Typen im Bett, habe noch nichtmal jemanden geküsst und habe Angst, dass, wenn es so weit ist, irgendwas absolut frustiges oder gar ekliges passiert und ich von meiner rosaroten Wolke tief abstürze. Sie nahm das zwar sehr ernst, meinte aber, dass ich meinen Weg finden werde. Wir sprachen ziemlich lange darüber. Sie konnte mich sehr gut überzeugen und meinte, ich sollte auch ein bißchen darauf vertrauen, dass richtig innige Liebe ziemlich schnell kopflos macht. Dann funktionieren plötzlich Dinge, die man nicht für möglich gehalten hätte. Dann machen Partner Dinge miteinander, die man ihnen niemals zutrauen würde. Sie hat mir empfohlen, mit mir selbst viel auszuprobieren.

Dann kamen wir auf meine Tabletten zu sprechen, die mein bisheriger Hausarzt nicht in der Menge verordnen wollte. Sie meinte, dass die Tabletten nur 8 Stunden wirken und man deshalb drei Mal pro Tag welche nehmen muss. Wieviel Milligramm man pro Einzeldosis nimmt, richtet sich danach, wann eine Wirkung eintritt. „Wenn man mit 15 Milligramm den gewünschten Erfolg hat, muss man nicht unnötig noch 50 Milligramm mehr davon fressen. Aber wenn es unter 15 Milligramm nicht funktioniert, nützt es auch nichts, nur 5 zu geben. Dann kann man das auch gleich ganz sein lassen.“

Dann kamen wir auf die Physiotherapie. „Ich schreibe Ihnen das jetzt für 6 Wochen auf, ab nächstem Quartal kläre ich mit Ihrer Kasse, dass Sie eine Dauerverordnung bekommen. Dann dürfen Sie bis zu einer Höchstgrenze pro Woche abrufen und unterschreiben, wann Sie da gewesen sind. Fertig. Das gleiche für Massagen, Sport, Einmalbedarf und was Sie sonst noch so brauchen. Machen Sie eine Liste fertig, wo drin steht, was genau Sie pro Woche benötigen.“

Dann wollte sie mir Blut abnehmen und mich untersuchen. Blutentnahme war schnell gemacht. „Ziehen Sie sich bitte bis auf die Unterhose aus. Sie können das hier auf der Liege machen, sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen.“ Also zog ich mich aus. Bis auf BH und Pampers. Sie tippte an Ihrem PC herum. Wahrscheinlich legte sie meine Akte dort an. Dann düste sie mit meinem Ordner zum Kopierer. Als sie wiederkam, sah sie mich auf der Liege sitzen. „BH bitte auch. Haben Sie noch eine Windel zum Wechseln dabei? Ich würde mir auch gerne die Haut an Ihrem Po ansehen.“ Ich bekam leichte Panik. „Kann ich vorher nochmal kurz aufs Klo?“

„Müssen Sie pinkeln? Dann kriegen Sie gleich einen Becher mit. Sie können sich auch hier kathetern, dann müssen Sie nicht halbnackt über den Flur.“ – „Ich katheter mich sonst gar nicht, ich kann die Blase auch
so komplett leer kriegen.“ – „Sie pressen aber nicht, oder?“ – „Nein.“ – „Das ist eher selten, dann machen wir auch gleich noch ein Ultraschall. Können Sie sich denn kathetern?“ – „Ja, das schon.“ – „Ich kann Ihnen Zwölfer oder Achter anbieten. Sind allerdings die langen und mit Beutel, aber das stört ja nicht.“ Irgendwie hätte ich mir doch lieber ein T-Shirt übergezogen und wäre einmal auf die Toilette gefahren. „Ich glaub, die Pampers ist nicht mehr so ganz trocken.“ Sie tippte den Satz zu Ende, kam auf ihrem Drehstuhl herangerollt, holte mit dem Fuß einen Blechmülleimer unter der Liege hervor, holte zwei Einmalhandschuhe aus einer Box und drückte sie mir zusammen mit einer Rolle Küchenpapier in die Hand. „Feuchtpapier auch?“ fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Soll ich lieber rausgehen?“ Ich schüttelte nochmal den Kopf.

Dann drehte sie sich wieder zu ihrem Bildschirm und hackte weiter auf die Tastatur ein. Als ich mit Kathetern fertig war, nahm sie mir den Beutel weg, ging zum Waschbecken, schnitt mit einer Schere eine Ecke ab und füllte den Inhalt in einen Plastikbecher, tunkte zwei Teststreifen ein, kam wieder und meinte, ich sollte mich mal gerade hinsetzen. Und dann ging die Geschichte los mit dem Finger, dem man mit den Augen folgen muss und sagen Sie mal „Ah“ und so weiter. Das alles ging relativ schnell. Sie hörte meine Lunge ab, und meinen Bauch, klopfte hier, klopfte da, bewegte meine Beine und meine Hüften durch, als sie mir meine Knie an die Brust drückte, fing ich erstmal an zu pupsen (es war an Peinlichkeit mal wieder nicht zu überbieten), ich sagte, wie ich es von Cathleen gelernt hatte, einmal laut: „Entschuldigung.“ Sie machte aber schon längst weiter und drehte die Beine nach außen und innen und meinte: „Das ist normal, wenn man auf den Bauch drückt.“ Dann interessierte sie sich noch für Stuhlgang und Tage und Ausfluss und wollte wissen, ob ich regelmäßig meine Brust abtaste. „Nee?!“ Dann bekam
ich gleich eine entsprechende Einweisung. „Immer mal nach dem Duschen beim Abtrocknen.“

„Waren Sie schon mal beim Frauenarzt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten Sie, wenn Sie jetzt 17 werden, mal einen kennen lernen, damit Sie jemanden haben, wo Sie schnell die Pille herkriegen, wenn es soweit ist. Das ist bei Querschnittlähmungen ja nochmal anders, da Sie ohnehin schon ein erhöhtes Thrombose-Risiko haben.“ Ich fragte, ob sie mir jemanden empfehlen könnte, und sie meinte, sie kennt in Othmarschen einen, der sich mit Querschnitten sehr gut auskennt und sehr nett ist. Allerdings ist es ein Mann. Aber er sei sehr einfühlsam und natürlich dürfe die beste Freundin oder der Partner mitkommen. „Hierher übrigens auch – so nebenbei bemerkt.“

Jetzt war noch Ultraschall dran. In der Blase waren 30 Milliliter, die Nieren, Bauch, Leber, Herz – alles okay. Ich konnte zwar nur graue Schatten sehen, aber wenn sie das gut findet, glaube ich ihr. Dann durfte ich mich wieder anziehen. Inzwischen war es kurz vor Acht. Hatte sie sich eine Stunde lang mit mir beschäftigt? Wow. Ich verabschiedete mich von ihr. Inzwischen war eine Mitarbeiterin vorne am Tresen und zwei ältere Frauen saßen schon im Wartezimmer und lasen Zeitung. „Wenn Sie was brauchen, rufen Sie an oder schreiben eine Mail. Im Notfall lieber anrufen, aber sonst lesen wir auch unsere Mails. Sollte mit den Laborwerten irgendwas sein, rufe ich Sie an. Sonst können Sie davon ausgehen, dass alles in Ordnung ist.“

Prima. Und dann war ich wieder draußen. Auf dem Rückweg habe ich mir vom Bäcker noch schnell Brötchen mitgebracht und dann auf nach Hause, frühstücken!

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