Muku, Spanfranz und Gewipo

Als ich das letzte Mal zur Schule gegangen bin, bin ich gegangen. Auf zwei Beinen. Am Morgen hatte ich mein Elternhaus verlassen. Seitdem ist über ein Jahr vergangen, seitdem bin ich nicht mehr zur Schule gegangen, geschweige denn auf zwei Beinen. Seitdem habe ich mein Elternhaus nicht mehr von innen gesehen.

Es war schon ein nachdenklicher Moment, als ich heute morgen um 9.00 Uhr zur Schule fuhr. Zu meiner neuen Schule. Ein berufliches Gymnasium, in dem ich in drei Jahren mein Abitur schaffen möchte.

Ich hatte die letzte Nacht vor Aufregung kaum geschlafen. Auf was für
Leute würde ich treffen? Akzeptiert man mich? Stelle ich mich nicht doof an? Passiert mir nichts peinliches? Finde ich Anschluss? Diese und mindestens 100 andere Fragen drehten sich die ganze Nacht lang in meinem
Kopf herum.

Mit dem Auto fahre ich genau 10 Minuten bis zur Schule. Es sind laut Tacho 3,9 Kilometer. Pro Strecke. Das Gebäude ist für Hamburger Verhältnisse topmodern, große Räume, vernünftige Tische, Teppichböden, elektrische Rolläden vor den Fenstern, Internetanschluss in den Klassenräumen, Aufzüge, saubere Toiletten, ansprechende Cafeteria … nö, ich war schon angenehm überrascht.

Um 9 Uhr ging es los, in unserer Klasse sind 23 Leute und ich bin nicht die einzige Rollstuhlfahrerin. An der Schule sind insgesamt (mit mir) 6, in meiner Klasse ist noch eine Schülerin, die aber wesentlich älter ist als ich. Sie hat die Zugangsvoraussetzungen durch einen Hauptschulabschluss plus Berufsausbildung erworben und ist bereits Ende 20. Überhaupt sind rund ein Drittel der „Schüler“ bereits mit einer Berufsausbildung fertig oder steigen ein zweites Mal ein. Was ich eher positiv finde. Außerdem wird im Klassenverband unterrichtet, nicht mit Kurssystem. Was ich auch eher positiv finde. Vielleicht ist es auch nur Gewohnheit.

Die Tische sind hufeisenförmig angeordnet, ich sitze neben der anderen Rollstuhlfahrerin am rechten unteren Ende des Hufeisens in der Nähe der Tür. Das war schon so vorgegeben. Ist mir aber ganz recht, dann
kann ich wenigstens zum Klo ohne dass es jemanden stört. Unseren Klassenlehrer lernten wir auch gleich kennen, ein Typ Anfang 60, den wir
in Pädagogik haben werden. Ich fand ihn recht witzig, auf jeden Fall scheint er keine Schlafmütze zu sein, die jenseits seines Berufs nichts mehr mitkriegt. Nett scheint er auch zu sein – wenn er auch noch fair ist und keine unerträglichen Launen hat, bin ich bereits zufrieden.

Was für mich völlig neu ist:

1. Ich bekomme zwei Büchersätze. Einer kann in der Schule eingeschlossen werden, einen darf ich mit nach Hause nehmen. Dadurch erspare ich mir die Schlepperei.

2. Es gibt Schließfächer im Klassenraum. Und auch noch ausreichend große. Und der Raum ist videoüberwacht.

3. Es gibt einen Aufenthaltsraum für Schüler und einen Ruheraum. Der Ruheraum ist in erster Linie für Schüler mit gesundheitlichen bzw. psychischen Problemen gedacht.

4. Wir dürfen Laptops verwenden, wenn sie beim Schreiben nicht klackern und wenn sie kein lautes Gebläse haben, also kurzum: Sie dürfen
nicht nerven. Wir dürfen uns ins Schulnetzwerk einklinken und können darüber ins Internet. Wir dürfen auch Klausuren auf dem Laptop schreiben, allerdings ist in der Zeit kein Netzwerk verfügbar und kein Internet (schade).

5. Hausaufgaben etc. sollen von zu Hause auf einen FTP-Server hochgeladen werden, damit sie in der Schule online verfügbar sind und man sich die Zettelwirtschaft erspart. Jeder hat sein eigenes Verzeichnis und muss darunter ein Unterverzeichnis für die einzelnen Fächer anlegen.

6. Für Klogänge etc. muss nicht gefragt werden. Einfach leise rausgehen. (War bis Klasse 10 bei mir noch anders.)

7. Es darf im Unterricht getrunken werden. Es wurde sogar auf Empfehlung vom Klassenlehrer beschlossen, vorne eine Kaffeemaschine und einen Wasserkocher aufzustellen, damit sich jeder mit Kaffee und Tee
versorgen kann – das Aufbrühen soll aber bitte in den Pausen passieren.
Es darf sogar im Unterricht gegessen werden, wenn es nicht stört. „Wenn
hier einer sein halbes Hähnchen auspackt oder stundenlang seine Spaghetti um die Gabel wickelt und die Bolognesesoße über die Tische spritzen lässt, verbieten wir das ganz. Auch Kaugummis sehen wir nicht gerne. Wenn sich aber einer einen Pfefferminzbonbon in den Mund steckt oder einmal geräuschlos vom Apfel oder seinem Frühstücksbrot abbeißt, ist uns das lieber, als wenn hier 26 Mägen knurren und man dabei sein eigenes Wort nicht versteht. Hunger macht außerdem einige Leute auch aggressiv und hemmungslos. Ja bitte?“ – „Haben Sie drei Mägen? Wir sind nur 23 Leute.“ – „Haben Sie gerade Hunger?“

Ich darf pro Tag nicht mehr als 4 Unterrichtsstunden haben, sagt ein Gutachten der Unfallversicherung. Wenn ich mich daran nicht halte, werden mir Sozialleistungen, die ich wegen des Unfalls bekomme, gestrichen. Die Schule kennt das bereits: Sport, Muku (Musik, Kunst, Darstellendes Spiel) und der Förderunterricht fallen ganz weg, Spanfranz, die dritte Fremdsprache (Spanisch oder Französisch), ebenso (das allerdings, da ich seit 7. Klasse bereits zwei Fremdsprachen verpflichtend nehmen musste) – und es gibt für jeden Tag 45 Minuten Hausarbeit zusätzlich zu den normalen Hausaufgaben. Montag und Dienstag Deutsch, Mittwoch und Freitag Englisch und Donnerstag Bio/Chemie.

Der Stundenplan ist recht übersichtlich. Die übrigen Fächer sind: Pädagogik, Mathe, Englisch, Seminar, Gewipo (Gesellschaft, Wirtschaft, Politik), Deutsch, Psychologie, Bio/Chemie und Statistik. Die komischen Abkürzungen habe ich mir natürlich nicht ausgedacht.

Nur an zwei Tagen muss ich um 8.00 Uhr anfangen, sonst gegen 9.00 Uhr
und einmal sogar erst gegen 10.00 Uhr. Am Montag habe ich leider einen freien Block, so dass ich zwischendrin 135 Minuten frei habe. Ansonsten habe ich jeden Tag bis halb 1 bzw. halb 2 Unterricht, einmal auch nur bis halb 12. Ich hoffe, dass ich den Stoff mit so wenig Stunden verstehe
und vor allem, dass ich nach dem einen Jahr Auszeit einigermaßen wieder
reinkomme.

Ich bin gespannt. Aber wie gesagt: Der erste Eindruck war sehr positiv.

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