Die neueste verbale Entgleisung meines Lieblingslehrers lautet: Penner. Ich bin nicht betroffen, sondern jemand, der sein Buch nicht gefunden hat. Inzwischen sagte jemand, dass der Lehrer keinen Bock mehr auf Unterrichten hat und sich freut, wenn er noch irgendwohin versetzt wird, wo er weniger Arbeit hat. Er meint wohl, dass man ihn nicht rausschmeißen kann. Wenn er mich allerdings eines Tages mal als Krüppel bezeichnet, gibt es richtig Ärger. Irgendwann kommt ein Spruch, da bin ich mir sicher.
Nach der Schule hatte ich mein erstes Familiengespräch mit meiner Psychologin im Krankenhaus. Bis ich dort angekommen bin und meine Eltern
tatsächlich auf dem Flur warteten, glaubte ich nicht, dass sie das ernst meinten. Allerdings war die anfängliche Freude schnell wieder vorbei. Mein Vater, sagte meine Therapeutin, ist für eine Familientherapie nicht zugänglich. Er müsste erstmal an sich selbst arbeiten, notfalls mit Hilfe eines eigenen Therapeuten. Das wollte er natürlich überhaupt nicht hören.
Aber es war vorauszusehen, als er zu meiner Therapeutin, die selbst Rollstuhlfahrerin ist, sagte, dass er die ganze Therapie, die im Krankenhaus gemacht wird, als Schritt in die falsche Richtung ansieht. Es kotze ihn an, wie in diesem Haus körperliche Wracks dazu gedrillt werden, sich gegenseitig mit Höchstleistungen zu überbieten. Ein defektes Auto werde repariert oder verschrottet – oder wenn es einen hohen Wert hat, als Oldtimer liebevoll gepflegt. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, mit einem Oldtimer an einem Rennen teilzunehmen.
Mein Vater sieht mich als jemand an, der durch einen bedauerlichen Unfall zu einem körperlichen Wrack gemacht wurde. Wenn es nach ihm geht,
soll mein Lebensinhalt nur noch ein Dahin-Vegetieren in einem Pflegeheim sein. Er hat nicht verstanden, was es bedeutet, sich selbst zu duschen und anzuziehen – im Gegensatz dazu, dass jemand kommt und einen duscht und anzieht. Für ihn gehören behinderte Menschen durch einen Pfleger betreut, geduscht und angezogen. Sie müssen auch nicht mehr arbeiten, sie sollen Rente bekommen. „Da kommt doch sowieso nichts bei raus. Die Kosten, einen behinderten Menschen einzustellen, rechnen sich nicht mit dem, was er in seinem Leben mal erwirtschaften wird.“
Weil ich gerade so gut in Fahrt bin, lasse ich auch nichts aus. Er ist ernsthaft der Meinung, dass die monatelange Rehabilitation nur ein Ziel hat: Der Rollstuhlfahrer soll keine Zeit haben, sich mit seiner „erbärmlichen“ Lage zu identifizieren. Stattdessen hat er nur noch einen
Kopf für Behindertensport, Arbeitsplatz, Schule, Studium – und merkt vor lauter Verblendung nicht, was er sich und seinem Umfeld damit zumutet.
Irgendwann hakte meine Therapeutin ein: „Wenn Sie meinen, dass das hier alles Schwachsinn ist – hat dieser Schwachsinn überhaupt keinen Wert, wenn man durch ihn erreichen kann, dass ein Rollstuhlfahrer wieder
Sinn in seinem -wie Sie es sagen- erbärmlichen Leben findet und wieder lachen kann? Wäre dieses positive Feedback Ihrer Tochter, Ihres -wie Sie
sagen- Wracks, es nicht wert, diesen Zirkus mitzuspielen? Verlangt er Ihnen so viel ab, als dass es sich nicht lohnen würde?“
Er antwortete, dass er ein ehrlicher Mensch ist und niemandem etwas vormacht. Er möchte ernst genommen werden und das verbietet solche Spielereien. „Ich glaube schon“, antwortete meine Therapeutin, „dass Ihre Tochter Sie auch dann ernst genommen hat, als sie erfahren hat, welcher Weihnachtsmann ihre Geschenke unter den Baum gelegt hat. Hat Ihre Tochter nie einen vermeintlich aussichtslosen Wettlauf gegen den Papa gewonnen und daran geglaubt?“
„Meine Tochter ist 17 und nicht 3.“ – „Auch mit 17 braucht man Menschen, die an einen glauben.“ – „Genau das ist der Punkt. Ich glaube an sie, aber nicht mit den Dingen, mit denen sie sich beweisen will, dass sie nicht behindert ist. Sie ist behindert, darüber können Schule, Sport und Freunde nicht hinwegtäuschen.“ – „Schule, Sport und Freunde gehören zu ihrem Leben. Das widerspricht sich nicht. Das sind keine Täuschungen.“ – „Sie wollen mich nicht verstehen.“
Als meine Therapeutin die Diskussion abbrach und die Frage stellte, welche Vorstellungen wir denn alle davon hätten, wie es weitergehen soll, sagten meine Mutter und mein Vater, dass sie es nicht wüssten. Auf
die weitere Nachfrage, ob sie nicht eine Vision hätten, sagte meine Mutter: „Ich träume davon, dass meine Tochter wieder gesund wird.“
Es ist und bleibt mir ein Rätsel, wie man so hohl sein kann. Ich habe
einige Sekunden die Idee gehabt, ob ich mich mit der Theorie meines Vaters, dass ich mich fordere, um mich von dem Gedanken, wert- und nutzlos zu sein, abzulenken, beschäftigen sollte. Aber erwartet das jemand wirklich ernsthaft von mir?