Der letzte Brownie

Seit heute mittag weiß ich mit einer gewissen Sicherheit, was ich schon lange vermutet hatte: Meine Mutter ist psychisch krank. Sie ist vor etwa zwei Wochen dem Rat ihres Hausarztes gefolgt und hat sich in einer psychiatrischen Klinik stationär aufnehmen lassen. Dort diagnostizierte man inzwischen eine „emotional instabile Persönlichkeitsstörung“, auch bekannt als „Borderline-Syndrom“. Eine behandelnde Ärztin telefonierte mit mir und bat mich zu gemeinsamen Therapie-Gesprächen in die Klinik, die allerdings rund 40 Kilometer von hier entfernt liegt. Außerdem würde meiner Mutter Besuch gut tun und vielleicht mal eine kleine Aufmerksamkeit. Ich habe ihr gesagt, dass ich
mir darüber Gedanken machen werde und sie wieder anrufe. Das fand sie okay, verabschiedete sich und legte auf. Ich möchte das erst mit meiner eigenen Psychologin besprechen. Begeistert bin ich von dem Vorschlag nämlich nicht, ich fände es wichtig, wenn sie erstmal alleine an sich arbeitet.

Eine Stunde danach rief meine Mutter selbst mit unterdrückter Rufnummer hier an und machte mich an, warum ich nicht gleich zugesagt hätte. Es war wie üblich anstrengend. Sie meinte, dass diese Diagnose ihre Zukunft völlig verändern würde und das der schlimmste Schicksalsschlag in ihrem Leben wäre. Sie wüsste überhaupt nicht mehr, wie es weiter geht, sie sei fertig mit ihrem Leben, aber das wäre mir ja
alles scheißegal. Sie hätte mich jedenfalls nicht auf die Welt gebracht, damit sie eines Tages mal erfahren müsste, dass ihre eigene Tochter sie völlig ignoriert. Immer dann, wenn ich Probleme gehabt hätte, wäre man für mich da gewesen, aber nun, wo sie Probleme hätte, entziehe ich mich sämtlicher Verantwortung. Ich habe dann irgendwann aufgelegt und das Telefon auf lautlos gestellt.

Ich weiß ja, dass man in so einer Situation und mit so einer Krankheit nicht nüchtern denkt. Aber mal ganz ehrlich: Die Krankheit hat
sie doch nicht erst dadurch, dass ein Arzt sie feststellt, sondern die Krankheit hat sie schon lange. Die Diagnose gibt dem Kind doch nur einen
Namen. Zu allem anderen äußere ich mich mal nicht, denn jeder, der meinen Blog kennt, weiß, wann meine Eltern für mich da waren und wann nicht und welche anderen Schicksalsschläge es im Leben meiner Eltern noch gibt.

Spätestens seit dem Film „Notting Hill“, der während meines stationären Klinikaufenthaltes gleich zwei Mal lief, weiß jeder, dass derjenige den letzten, übrig gebliebenen Brownie verdient, der das schwerste Schicksal zu schultern hat. Ich möchte diesen letzten Brownie gar nicht. Nur soll ich, so die Ärztin, einen Schritt auf meine Mutter zugehen. Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer ist: Querschnitt oder Borderline. Es ist wohl auch der berühmte Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Ich möchte bei allem Respekt nicht akzeptieren, dass meine Eltern sich, als es mir dreckig ging, mäßig bis gar nicht um mich gekümmert haben und bis heute mein Leben noch nicht akzeptieren können, ich mich auf der anderen Seite aber nun sofort voller Tatendrang und Hilfsbereitschaft um die Therapie meiner Mutter kümmern soll.

Ich vermute, dass man, wenn man meinen Vater mal eingehend untersucht, auch dort etwas finden würde. Das meine ich nicht gehässig, sondern völlig wertfrei. Allerdings wird er wohl nicht freiwillig zu einem Psychiater gehen. Von daher bekommt das zweite Kind eben keinen Namen.

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