Als wäre das gestern noch nicht genug gewesen, heute folgt Teil 2. Ich hatte mir vorgenommen: Sollte Sandra heute wieder mit in den Aufzug steigen, steige ich wieder aus und lasse sie alleine fahren. Tatsächlich
ging sie mit mir ins Gebäude, lief hinter mir her, bog dann aber, während ich auf den Aufzug wartete, ins Treppenhaus ab. Ich stieg ein und noch bevor die Kabinentür sich schloss, kam sie um die Ecke gelaufen, stellte sich so in den Weg, dass ich nicht mehr aussteigen konnte und auch nicht mehr an die Bedienknöpfe kam. Die Tür schloss sich.
„Hallo Krüppel, gut geschlafen? Weißt du, bei mir kann man sich aussuchen, ob man Krieg oder Frieden will. Normalerweise bin ich für Frieden, aber du hast dich unmissverständlich für Krieg entschieden. Kannst du haben.“ Ich reagierte sofort: „Packst Du mich nochmal an, kriegst du von mir ohne Vorwarnung ein paar in die Fresse.“
„Ich mache mir doch an dir nicht die Finger schmutzig. Vielleicht stecke ich mich noch mit irgendwas an. Nee lass mal. Wer weiß, was du alles in dir trägst.“ Sie zog ihren Rucksack vor den Bauch und öffnete ihn. Was holte sie raus? Irgendeine Waffe? Ich bekam es mit der Angst zu
tun. Ich öffnete den Reißverschluss meiner Jackentasche und griff hinein. Aber sie holte keine Waffe hervor. Also ließ auch ich mein Pfefferspray stecken. Sie holte eine Trinkflasche raus.
Obwohl … das war keine Trinkflasche. Das war so eine durchsichtige Spritzflasche aus dem Chemie-Unterricht. Was war da drin? Wasser? Irgendeine Säure? Benzin? Was hatte dieses Psychoweib vor? Bevor ich irgendwie reagieren konnte, spritzte sie mir den Inhalt mit großem Druck
in den Schritt. Ich schrie. Es war wohl wirklich nur Wasser. Als die Tür aufging, sagte sie zu mir: „Arme Irre. Schreit wie ein Schwein beim Schlachten.“ Draußen stand niemand. Mein Herz raste. Alter Schwede, was war das denn?!
Ich fuhr auf direktem Weg zur Toilette. Wechselte die Hose und den Kissenbezug. Meine Hände zitterten von dem Adrenalin-Flash. Als ich kurz
nach Unterrichtsbeginn in die Klasse kam, war auf meinem Platz ein großer nasser Fleck auf dem Fußboden. Meine Nachbarin war nicht da, also
stellte ich mich gleich auf ihren Platz.
In der ersten Pause kam Lisa, Sandras beste Freundin, zu mir und fragte mich, ob ich heute morgen mein Getränk verschüttet hätte oder warum der Fußboden so nass wäre. Bevor ich überlegen konnte, ob es sich lohnt, auf diesen Schwachsinn was zu erwidern, schnappte sich Sandra meine Schultasche, lief damit quer durch den Klassenraum und holte die Tüte mit der nassen Hose und dem nassen Kissenbezug raus. Dazu noch die obligatorische Pampers. Die Pampers packte sie auf den Lehrertisch, die Hose warf sie einer Mitschülerin zu, die nur kreischend zur Seite wich: „Geh weg mit dem Pissding!“ Die anderen Mädels liefen kreischend auf den
Flur. Pissding? Woher wusste die, dass die Hose nass war? Sie triefte ja nicht. Ich vermute, Sandra hatte irgendwelche Gerüchte verbreitet.
„Wollen wir mal nicht so sein“, sagte sie und hängte die Hose auf einen Heizkörper, an den ich jedoch nicht dran kam, weil Tische davor standen. Die Windel warf sie in den Mülleimer. Dann gab sie mir meine Tasche zurück. „Ich will meine Hose wiederhaben!“ – „Wie heißt das? Schonmal was von dem Wörtchen ‚Bitte‘ gehört?“ – „Du kannst mich mal“, fuhr ich sie an. Dann kam die erste Drohung: „Jedes falsche Wort in der nächsten Stunde hat Konsequenzen.“ Ich antwortete: „Fragt sich nur, für wen.“ Zweite Drohung: „Wage es ja nicht! Du halbe Portion.“
Während der Lehrer zu seinem Tisch ging, ging Sandra auf ihren Platz und beschwerte sich lautstark: „Muss die vollgepisste Hose hier auf der Heizung hängen? Die stinkt!“ Allgemeines Gelächter. Nur Schwachmaten in der Klasse. Der Lehrer fragte: „Was ist das für eine Hose?“ – „Eine Pisshose“, wiederholte Sandra.
„Ja wem gehört die?“ fragte der Lehrer weiter. Ich meldete mich. „Mir
gehört die Hose. Die hat Sandra mir in der Pause gerade weggenommen und
hier durch die Klasse geworfen. Außerdem ist die nicht vollgepisst, sondern Sandra hat mir heute morgen Wasser auf den Schoß gekippt für diese Show.“ – „Das stimmt doch überhaupt nicht“, mischte sich Lisa ein.
„Ehrlich, Jule, ich kann verstehen, wenn dir das peinlich ist, wäre mir
auch peinlich, aber jetzt fang nicht an, andere Leute da mit reinzuziehen und hier irgendwelche Geschichten zu erzählen. Pack die Hose ein und dann ist es gut.“
„Das sind keine Geschichten, sondern ich werde hier gemobbt“, versuchte ich mich zu wehren. Der Lehrer hakte ein: „Hat das jemand gesehen?“ Niemand meldete sich. Große Klasse. Ich sagte: „Ist in Ordnung. Ich packe jetzt meine Sachen zusammen und fahre nach Hause. Mir
geht es nicht gut. Vielleicht sind Sie wenigstens so freundlich und achten darauf, dass die beiden da nicht hinter mir her laufen. Ein tätlicher Übergriff im Aufzug pro Tag reicht mir.“ Sandra kommentierte: „Heul doch!“
„Hat man Sie geschlagen?“ fragte mich der Lehrer. „Nein, mit Wasser bespritzt“, antwortete ich. Er seufzte. „Julia, das ist kein tätlicher Übergriff, das ist Kindergarten. Wasser trocknet wieder. Das ist nicht schön, aber ich wurde in meiner Schulzeit mit Hemd und Hose in den Rhein
geworfen. Ich habe jetzt echt keine Lust auf so einen Zirkus. Wenn Sie meinen, dass Sie nach Hause gehen müssen, werde ich Sie nicht aufhalten,
aber ich möchte jetzt mit dem Unterricht beginnen.“
Ich verließ den Klassenraum. Im Aufzug fing ich an zu heulen. Ich fuhr zum Lehrerzimmer und fragte, ob der Vertrauenslehrer da sei. Nein, der wäre heute gar nicht da. Also fuhr ich nach Hause, in der Hoffnung, ihn morgen zu erwischen bevor ich Sandra sehe.