Scheiß Schnee

Als kleines Kind habe ich gerne im Schnee gespielt. Ich habe mich auch jedes Jahr aufs Neue auf den ersten Schnee gefreut. Irgendwann war es mir dann relativ egal, ich habe den Schnee als natürliches Phänomen des Wetters hingenommen. Inzwischen hasse ich Schnee. Mit Handschuhen kann man nur sehr schlecht Rollstuhlfahren; entweder weichen sie binnen 10 Minuten durch oder man bekommt dadrin schwitznasse Hände oder sie zerbröseln nach ein paar Kilometern oder sie halten nicht warm. Der große Wurf schneint noch niemandem gelungen zu sein.

In festen, plattgetretenen Schnee graben sich die Vorderräder ein. Lockerer Schnee setzt sich zwischen Reifen und Greifreifen, kommt mit hoch und bleibt oben auf dem Schoß oder im Ärmel kleben. Balancieren auf
den Hinterrädern ist wegen der nassen und rutschigen Greifreifen auch kaum möglich. Die Hände frieren einem ab. Und nicht nur die, dicke Jacke
kann man auch nicht tragen, wenn man selbst fahren will. Schleift ja alles in den Rädern. Der einzige Vorteil ist, dass man bei Glätte nicht ausrutschen kann. Ein schwacher Trost.

Zusammenfassend kann man sagen, dass ich keinen Rollstuhlfahrer kenne, der Schnee mag (außer zum Mono-Ski-Fahren). Und ich freue mich auch schon wieder auf den nächsten Sommer und das erste Bad in der Ostsee. Und einen Strandkorb.

Heute hatte ich erst Krankengymnastik, dann musste ich zu einer Jugendversammlung. Um zu beiden Terminen (und nicht nur zum ersten) mit dem Auto fahren zu können bei dieser Kälte, wollte ich im Anschluss an die Jugendversammlung nebenan noch ein paar Teile einkaufen. Zum Einkaufen darf ich ja mit dem Auto fahren, zur Krankengymnastik auch, aber zur Jugendversammlung nicht. Aber direkt neben der Jugendversammlung ist ein Supermarkt. Und beides ist auf dem Rückweg von
der Krankengymnastik.

Als wir bei der Jugendversammlung saßen und die Spannungskurve der Vorträge die Null-Linie kreuzte, schaute ich aus dem Fenster und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Fette Schneeflocken, die auch noch liegen blieben. Die anderen Rollifahrer waren ebenso wenig angetan,
so dass die Versammlung schneller als gewohnt zum Ende kam. Noch schnell einige Dinge einkaufen, dann kam ich mit der Klappkiste auf dem Schoß zu meinem Auto zurück.

Typisch: 10 Zentimeter neben der Fahrertür hatte ein Mercedesfahrer seinen Wagen abgeparkt. Die Hälfte seines Autos stand mit auf „meinem“ Behindertenparkplatz, die andere Hälfte in einem Rasenbeet. Kein Ausweis
drin (wenngleich der auch nichts mehr genützt hätte), zugeschneit, auswärtiges Kennzeichen. An meinem Auto hing deutlich sichtbar das Schild: „Bitte Türbreite Abstand halten!“ Durch seine Parkerei war auch der Weg zu meinem Kofferraum blockiert, so dass ich durch den fließenden
Straßenverkehr gemusst hätte, um dorthin zu gelangen. Auf der Beifahrerseite stand eine Hecke.

So stand ich da: Wie eine Schneefrau mit relativ dünner Jacke, erfrorenen Fingern, eiskalten Beinen und Füßen (die werden ja kaum durchblutet, zum Glück merke ich die Kälte da nur indirekt), müde, hungrig, mit einem schweren Einkaufskorb auf dem Schoß und dem dringenden Bedürfnis, mal eine Toilette aufsuchen zu können. Über Handy rief ich die Polizei an und schilderte meine Lage. „Das nächste freie Fahrzeug kommt zu Ihnen, bitte melden Sie sich, sollte der andere Fahrer
inzwischen auftauchen.“

Bibber. Bibber. Bibber. Einige Leute, die mich da stehen sahen, fragten, ob sie mir helfen könnten. Leider nicht, denn ein umgebautes Fahrzeug können sie nicht fahren. Außerdem wäre das ohnehin heikel: Was,
wenn derjenige abhaut oder einen Crash baut? Also warten. Bibber. Bibber. Bibber. 5 Minuten. Bibber. 10 Minuten. Bibber. Schneetreiben, eiskalter Wind. Bibber. Nach 15 Minuten: Ein Streifenwagen! Das ging ja schnell. „Guten Abend. Ihrer ist der Golf, nehme ich an?“ Ich nickte. „Hat der Benz einen Ausweis drin liegen?“ Ich schüttelte den Kopf. Der Polizist fegte die Windschutzscheibe frei. „Nö. Aber der war schon vor Ihnen da, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Standheizung“, klärte ich auf. „Ich kann ja nicht kratzen, deswegen hab ich ihn schonmal auftauen lassen.“

„Wollen Sie eine Decke haben?“ fragte der Polizist. Inzwischen war mir alles egal. Der Schnee fiel mir aus den Haaren, als ich nickte. Ich bekam eine braune Wolldecke umgehängt. Das wärmte tatsächlich. „Ich hole
jetzt sofort einen Abschleppwagen und mache das eilig. Das dauert aber trotzdem noch einen Moment.“ Ich nickte. Der Typ wurde auf seinem Funkgerät angelabert: „Halter konnte nicht erreicht werden.“ Er funkte gleich zurück: „Ja, bestell mir hier mal bitte einen Abschlepper. Aber Kran, keine Rolle. Die stehen hier so eng, das wird sonst nichts. Und die sollen Gas geben, die Rollstuhlfahrerin steht hier schon seit einer halben Stunde und unterkühlt langsam.“ Er fügte hinzu: „Ich würde Sie ja
in unser Auto klettern lassen, nur wenn wir hier einen schnellen Einsatz kriegen, können wir nicht warten, bis sie wieder draußen sind.“

Keine zwei Minuten später war der Abschlepper da. „Der Pinneberger?“ Der Polizist nickte. „Selten dämlich.“ Der Typ rotierte. An den Rädern wurden Vorrichtungen angebracht, dann ein Metallgestänge an einem Kran über das Auto gelenkt, alles angebunden, vorsichtig angehoben, gaaaaanz langsam, stückweise, mit Festhalten (dazu kam auch noch die zweite Polizistin aus dem warmen Streifenwagen) – und schon war der Mercedes weg. Und genau in dem Moment kam ein älterer Herr angewackelt. „Mein Auto, mein Auto, …“

Anders als sonst war dieser Herr aber sichtlich mitgenommen. „Das habe ich nicht gewollt, das habe ich nicht gesehen, das tut mir sehr leid, das ist mir sehr unangenehm, das war wirklich keine Absicht, normalerweise achte ich immer da drauf.“ Naja, immerhin stand er mit einem Rad in der Grünanlage, aber ich will ihm mal glauben, dass er dachte, sein Nachbar kann sich da reinquetschen. Vielleicht waren die Bodenmarkierungen schon von Schnee bedeckt, als er ankam und er hat die Schilder nicht gesehen. Er hat sich mindestens 5 Mal entschuldigt. Okay,
kann passieren.

Endlich im warmen Auto. Die erste Fahrt meines Lebens im Schnee. Winterreifen habe ich, ABS und ESP hat das Auto auch, aber in der Fahrschule haben wir gelernt: Wenn es glatt sein könnte, dann muss man so fahren, dass man im Zweifelsfall mit Ausrollen lassen rechtzeitig zum
Stehen kommt. Ausparken war kein Problem, aber schon beim Anrollen drehten die Räder durch. Anrollen, nicht Anfahren. Ich meine damit das, was passiert, wenn man beim Automatikfahrzeug auf „D“ schaltet und die Fußbremse loslässt. Beim Anrollen drehten die Vorderräder durch und das Auto rutschte langsam seitwärts. Oh mein Gott.

Es ging, indem ich die Bremse ganz langsam löste. Es war auch eine besonders glatte Stelle. Dort, wo viele Autos fuhren, war es etwas entspannter. Schneller als 25 km/h fuhr niemand. Ich hielt mindestens 5 Fahrzeuglängen Abstand. Bei einer Ampel wurde es rot, als mein Vordermann etwa 5 Meter davor war. Er bremste, kam aber ins Rutschen und
fuhr bei Dunkelrot noch rüber. Ich bremste auch, allerdings mischte sich schon bei der geringsten Bremswirkung das ABS ein. Ätzendes Gefühl,
wenn man das Auto mit der Hand bedient und dieses Vibrieren auf den Handballen übertragen bekommt. Die Straßen waren spiegelglatt. Die Leute
gingen teilweise auf allen Vieren. Einige hatten ihre Schuhe ausgezogen
und gingen auf Socken.

Kurz bevor ich zu Hause war, überholte mich an einer Ampel ein roter Lupo vom Smilie-Pizza-Dienst. Zwei Minuten später sah ich ihn wieder, nämlich in einem anderen Auto drin. War doch klar. Ich war froh, als ich
zu Hause ankam. Ich habe für eine Strecke, für die ich sonst 10, höchstens 15 Minuten brauche, über eine Stunde benötigt. Aber ich habe niemanden angeditscht, mich nicht gedreht, keinen behindert oder gefährdet – trotzdem träume ich nach wie vor vom Sommeranfang.

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