Eigentlich hätte ich heute erst um kurz vor zehn Uhr zur Schule gemusst, aber bereits um Viertel vor Acht klingelte mein Handy. Normalerweise schalte ich das immer aus, wenn ich schlafe. Ich war zwar schon wach und auch schon aus dem Bett, aber eigentlich noch nicht „online“. Meistens stelle ich das Handy erst nach dem Frühstück an. Ich habe es wohl gestern abend vergessen auszuschalten.
Am anderen Ende war der Vertrauenslehrer. Er hatte nicht auf dem Plan, dass ich erst gegen 10 Uhr zur Schule muss und dachte, ich wäre jeden Moment dort. Er habe den Brief bekommen, mit dem sich jemand anonym beschwert, dass ich immer meine gebrauchten Windeln in den Mülleimer der Klasse werfen soll und er sei heute morgen von dem Lehrer meiner gestrigen letzten Schulstunde angesprochen worden, dass ich geäußert hätte, ich werde gemobbt. Er sagte, dass an dieser Schule Mobbing nicht geduldet wird und er wissen möchte und wissen muss, ob ich
mich gemobbt fühle und warum.
Ich erzählte im kurz, was in den letzten drei Schultagen passiert ist
und bat ihm an, meine drei Blog-Einträge (ich habe gesagt, ich schreibe
Tagebuch) per Mail zu schicken. Ich war noch nicht mit dem Frühstücken fertig, als er erneut anrief. Er wollte wissen, ob wir heute eine Klausur schreiben. Als ich verneinte, sagte er, dass er nicht möchte, dass ich heute in den Unterricht gehe. Statt dessen soll ich um 10 Uhr für ein Gespräch zum Lehrerzimmer kommen.
Gegen 9 Uhr bekam ich eine SMS von meiner Banknachbarin: „Bist du schon in der Schule? Hier ist der Teufel los! Vetrauenslehrer sitzt hier, kein Unterricht. Sandra, Lisa und 2 andere bei Direktorin. Jeder muss einzeln vor der Klasse sagen, was er gesehen hat und warum er nichts gesagt hat. Das zieht sich wohl noch die ganze Stunde hin!“
Oh nein! Schon wieder meinetwegen so ein Aufriss. Ich beeilte mich, packte meine Sachen und fuhr zur Schule. Vor dem Lehrerzimmer sollte ich
warten. Als es zur großen Pause gongte, kam der Vertrauenslehrer auf mich zu und sagte, dass in der nächsten Stunde ein Gespräch zwischen Sandra, Lisa, mir und ihm stattfinden soll. Ich antwortete nur: „Ich hoffe nur, dass der Schuss nicht nach hinten losgeht.“
Er sagte: „Ich bin ja dabei.“ Ich schüttelte den Kopf: „Nee, ich meine hinterher.“ Er meinte, da bräuchte ich keine Angst zu haben. Ich sollte ihm vertrauen. Ich ging mit ihm in einen Konferenzraum, wir beide
setzten uns an einen runden Tisch. Kurz danach wurden eine Frau mit Mantel und Mütze und ein Typ in beiger Latzhose mit Firmenschild (irgendeine Tischlerei) auf der Brust und Weste von der Sekretärin reingebracht. Die Frau war die Mutter von Lisa, der Mann war der Vater von Sandra. Die beiden kamen rein, gaben dem Vertrauenslehrer und mir die Hand, die Mutter wirkte ziemlich normal, der Vater wirkte ein wenig fassungslos. Beide setzten sich hin, sagten kein Wort, kurz danach ging die Tür auf und die Sekretärin brachte Lisa und Sandra hinein. Keine Ahnung, welche anderen beiden Schülerinnen noch mit bei der Direktorin waren, meine Banknachbarin hatte von vier Leuten geschrieben in der SMS.
Egal.
„Setzt Euch bitte. Wir warten noch einen kleinen Moment.“ Kurz danach
klopfte es. Unser Deutschlehrer reichte einen Rucksack und eine Umhängetasche herein. Unser Vertrauenslehrer stellte sie auf den Tisch. „Das sind unsere Taschen“, sagte Sandra kleinlaut. Der Vertrauenslehrer antwortete: „Das ist gut. Es steht im Raum, dass ihr andere Schüler mit einer Waffe angegriffen habt.“ Die Mutter von Lisa erstarrte förmlich. Er setzte fort: „Im juristischen Sinn. Auch eine mit Chemikalien gefüllte Spritzflasche kann dabei eine Waffe sein.“ – Sandra widersprach
gleich: „Das war nur Wasser.“ – „Sie haben jetzt Sendepause. Sie können
gleich etwas dazu sagen. Ich habe den Verdacht, dass Sie in der Schule Waffen bei sich führen und es sich bei der Flüssigkeit nicht um Wasser gehandelt hat. Sie haben also bereits einmal eine Waffe gegen eine Schülerin eingesetzt. Ich möchte Ihre Taschen durchsuchen. Sie haben zwei Möglichkeiten: Entweder gestatten Sie mir, Ihre Tasche vor Zeugen zu durchsuchen oder ich stelle die Taschen sicher und rufe die Polizei. Dann entscheidet die Polizei, ob durchsucht wird. Sofern die Polizei gerufen wird, springt unter Garantie dabei auch eine Anzeige gegen Sie beide heraus.“
„Durchsuchen Sie die Tasche“, sagte der Vater. Die Mutter nickte. Sandra wollte widersprechen, aber der Vater fuhr sie gleich an: „Ich will hier keinen Mucks hören, sonst vergesse ich mich. Ich bin so geladen, ich gebe dir nur den guten Rat: Lege dich nicht mit mir an, Fräulein.“ Was kam zum Vorschein? Keine Spritzflasche, dafür aber ein Springmesser und zwei Mal Pfefferspray. Der Lehrer nahm das Messer in die Hand. „Was ist das hier?“ – „Ich weiß nicht, wo das her kommt“, antwortete Sandra.
„Sie kennen die Schulordnung, die ist Ihnen zu Beginn des Jahres ausgehändigt worden. Beim Pfefferspray hätte ich jetzt nichts gesagt, aber ein Springmesser ist eindeutig eine Angriffswaffe. Sie werden von der Schule eine Anzeige bekommen. Diese Messer sind auch außerhalb der Schule nicht erlaubt.“ – „Muss das sein?“ fragte der Vater sofort. Der Vertrauenslehrer antwortete: „Das habe ich nicht entschieden. Sie befinden sich hier in einer staatlichen Schule. Ihre Tochter bekommt die
Anzeige von Amts wegen. Automatisch sozusagen. Ob ich will oder nicht, spielt dabei keine Rolle.“
Er fuhr fort: „Sie müssen auch damit rechnen, von der Schule verwiesen zu werden. Sie haben heute morgen schon einen Verweis kassiert, das wäre hier der zweite.“ Sandra antwortete: „Muss man nicht drei haben, bevor man fliegt?“ Sagenhaft. Unglaublich. Der Vertrauenslehrer: „Es kann auch einer reichen. Bei Ihnen ist das Maß voll. Sie werden die letzte Woche vor den Ferien auch hier nicht mehr auftauchen. Sie bekommen Hausverbot. Sollten Sie hier angetroffen werden, bekommen Sie die nächste Anzeige. Anfang des neuen Jahres werden
wir uns zusammensetzen, wenn Sie das möchten, und schauen, wie es weiter geht. Ob an unserer Schule oder anderswo, kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen. Das hängt auch von Ihnen ab.“
Der Vater sagte: „Warum machst du dir alles kaputt? Warum? Du wolltest so gerne auf diese Schule, hast gebetet und gebettelt, dass sie
dich nehmen. Und kein halbes Jahr später machst du alles kaputt durch so eine Scheiße? Warum? Was hast du dir dabei gedacht? Und warum lässt du das ausgerechnet an einem behinderten Mädchen aus? Ich bekomme Angst!“ Er wandte sich zum Vertrauenslehrer. „Ich habe noch eine zweite Tochter, die seit Geburt behindert ist und bei uns lebt. Sandra sorgt sich liebevoll um sie, die beiden sind unzertrennlich. Ich kann das überhaupt nicht verstehen.“
Sandra fing an zu heulen. „Sie hat mich gedisst vor der ganzen Klasse. Hat mich als Bitch dargestellt, die später mal beim Chef auf dem
Schoß sitzt und ihre Titten auspackt statt zu arbeiten. Das war nur die
Rache und die hat sie verdient. Ich habe sie mit Wasser bespritzt, nichts weiter!“
„Sie haben Sie geohrfeigt, angespuckt, ihre Toilettenartikel in der Klasse herumgereicht, sie psychisch massiv unter Druck gesetzt, durch üble Gerüchte, durch Drohungen. Mobbing wie aus dem Lehrbuch. So etwas dulden wir hier nicht.“
Ich sagte: „Sandra, ich habe mich dreißig Sekunden später vor der gesamten Klasse für meine Bemerkung entschuldigt und gesagt, dass ich das überzogen habe. Du weißt aber genauso, dass es eine Reaktion darauf war, dass du mich davor vor der ganzen Klasse bloßgestellt hast. Du hattest behauptet, ich hätte die Lösungen der Klausur vorab vom Lehrer bekommen und nur deswegen 15 Punkte bekommen. Du hattest behauptet, ich würde meine Behinderung ausnutzen, um bessere Noten zu bekommen.“
„Das ist ja auch so“, sagte Sandra erneut. Und sie war davon überzeugt und ließ sich auch nicht davon abbringen, dass man am Laptop nicht schummeln kann. Sie meinte, es sei ein technisches Gerät und da könnte man immer irgendwie schummeln.
Inzwischen finde ich die Information mit ihrer behinderten Schwester sehr wertvoll. Ich vermute, dass sie ihr Leben lang gelernt hat, dass behinderte Menschen Hilfe und Fürsorge und Schutz benötigen. Ich weiß nicht, welche Behinderung ihre Schwester hat, aber möglicherweise hat sie derartige Einschränkungen, dass sie täglich immer wieder auf Hilfe angewiesen ist. Dann würde das natürlich erklären, warum Sandra nicht sofort verstehen kann oder verstehen will, dass es auch andere Menschen mit Behinderung gibt, die eben in bestimmten Bereichen besser sind als die Schwester oder sogar besser als Sandra selbst. Dieser Aspekt wurde aber im Gespräch nicht angeführt.
Trotzdem darf jemand nicht so reagieren und mich so einschüchtern und
unter Druck setzen. Und ich kann auch Lisa nicht verstehen, die das ohne nachzudenken mitspielt. Was mich aber sehr positiv überrascht hat, ist, dass die Personen Nummer 3 und 4, die heute morgen bei dem Klassengespräch ebenfalls nicht anwesend waren, zwei Mitschülerinnen waren, die aus eigenem Antrieb ebenfalls zum Vertrauenslehrer gegangen sind und dieses Mobbing gemeldet haben. Ich weiß bis jetzt noch nicht, wer das war, aber das möchte ich noch rauskriegen. Meine Banknachbarin weiß ja, wer außerdem nicht anwesend war, ich werde sie morgen fragen.
Ende vom Lied: Lisa hat einen Verweis bekommen und sich nach dem Gespräch bei mir entschuldigt. Sie sagte, sie habe einfach nicht darüber
nachgedacht. Sandra sei ihre beste Freundin und sie habe einfach mitgemacht. Sandra hat sich am Ende nicht entschuldigt. Vielleicht kommt
da noch was im neuen Jahr. Die Mutter sagte zu mir, dass sie zu Hause mit ihrer Tochter noch einmal intensiv reden wird. Sie sagte mir: „Das wird nicht noch einmal vorkommen.“
Der Vater sagte zu mir: „Sie haben meine Tochter mit Ihrer Beleidigung vor der ganzen Klasse sehr gekränkt. Ich spüre das. Darüber bin ich sehr sauer und ich kann Ihnen auch nicht ausdrücken, wie tief ich das verabscheue. Trotzdem rechtfertigt das nicht, was meine Tochter getan hat. Ich möchte mich für sie entschuldigen.“
Ich habe ihm dann auch nochmal gesagt, dass es mir Leid tut, was ich gesagt habe.
Im Anschluss an das Gespräch sollte ich nach Hause fahren. Der Vertrauenslehrer meinte, es wäre besser so. Ich sollte erst morgen wieder normal am Unterricht teilnehmen. Als ich im Auto saß und meinen Rollstuhl verladen hatte, merkte ich, dass ich völlig durchgeschwitzt war. Meine Güte, was für ein Stress. Jetzt habe ich erstmal geduscht und
fühle mich wieder einigermaßen frisch. Bei mir wird es echt niemals langweilig.