Dass es noch weiter schneien soll, wurde angekündigt. Also sind Sofie und ich zum Großeinkauf losgezogen. Wer weiß, ob wir mit unseren Rollstühlen in den nächsten Tagen aus dem Haus kommen, wenn das eintritt, was die Wettervorhersage verspricht. Liam ist für zwölf Tage bis nächsten Freitag auf einer Fortbildung im Breisgau und sonnt sich, während hier oben die Welt untergeht.
In so einen Kombi geht ja jede Menge rein. Im dicksten Schneesturm fuhren wir zurück – bis zur Tiefgaragen-Einfahrt. Das Tor war eingefroren. Also mussten wir auf der Straße parken. Es hat fast eine Viertelstunde gedauert, bis wir überhaupt aus dem Auto ausgestiegen waren. Sofie konnte auf der Beifahrerseite gar nicht raus, weil ich dort
mit ihrem Rollstuhl vor mir nicht den Bordstein hoch kam, also musste sie auf meinen Sitz rutschen und dort aussteigen.
Die Straße ist nicht geräumt, fette Eisschichten liegen unter dem frischen Schnee. Die Reifenspuren, in denen die Autos regelmäßig fahren,
waren schonmal aufgetaut. Bei dem Versuch, im rechten Winkel durch diese Spuren zu kommen, fuhren wir uns fest und bekamen uns weder selbst
noch gegenseitig wieder hinaus. Während die Vorderräder im Eis versanken, rutschten die Hinterräder auf dem glatten Schnee. Unsere Straße ist eine Sackgasse, daher kommen nicht viele Autos. Das erste Auto, das kam, fuhr um uns herum. Der Fahrer half nicht.
Dann kam ein Junge, ich vermute etwa 12 Jahre alt. Ich sprach ihn an:
„Du, kannst du uns bitte helfen?“ – „Was krieg ich dafür?“ – „Einen Backs“, antwortete Sofie schlagfertig. Der Junge guckte sie entsetzt an.
„Kannst weitergehen, entschuldige, dass wir dich um Hilfe gebeten haben.“ fügte sie hinzu. Völlig sprachlos ging er weiter.
Inzwischen schneiten wir so langsam ein. Dann kam eine Frau mit ihren
Kindern aus dem Nachbarhaus, setzte ihre beiden Kinder ins Auto. Bevor sie einstieg, schlurfte sie zu uns. „Kann ich euch helfen?“ – „Würden Sie uns bitte einmal helfen, hier aus der Fahrrinne wieder rauszukommen?“
Das größte Problem war, dass sie selbst ständig wegrutschte. Als sie Sofie über den Gehweg auf den relativ ebenen Weg zum Haus geschoben hatte und zu mir zurück kam, fragte sie mich: „Und der Einkauf im Auto? Wie kommt der jetzt ins Haus?“ – „Keine Ahnung, wir fragen nachher irgendjemanden. Vielleicht wird ja auch das Garagentor repariert, dann können wir das selbst.“ – „Ich trag euch das eben rein.“ sagte sie, während sie mich in Richtung von Sofie schob.
„Nee, das ist nett gemeint, vielen Dank. Wir sind schon froh, dass wir von der Straße runter sind.“ – „Ich muss mich bei mir zu Hause auch immer um den Einkauf kümmern, also wo soll das ganze Zeug hin? Ich sage eben kurz meinen Kindern Bescheid.“ – „Nein, lassen Sie mal. Das ist mir
echt unangenehm.“ – „Ruhe jetzt. Wer weiß, wann das Garagentor wieder funktioniert. Bis dahin ist die Milch eingefroren und geplatzt.“
Sie ging zu ihren Kindern und sagte: „Ich muss den beiden eben helfen. Ich komme gleich wieder.“ Dann trug sie doch tatsächlich den kompletten Einkauf, den wir glücklicherweise schon gleich in mehreren Klappkisten verstaut hatten, inklusive der ganzen Getränkekisten bis zum
Eingang. Das dauerte letztlich keine drei Minuten, aber ich hätte fast geheult, so unangenehm war mir das.
Das Tor wurde rund zwei Stunden später repariert. Inzwischen steht das Auto wieder in der Tiefgarage. Schon Scheiße, wenn man so behindert ist.
Gerade gestern diskutierte ich mit einer Fußgängerin darüber, dass es
Rollstuhlfahrer gibt, die fremde Hilfe als selbstverständlich ansehen und diese zum Teil sogar schon regelmäßig in den Tagesablauf einplanen und für völlig selbstverständlich halten. Für solche Zeitgenossen kann ich mich wirklich nur fremdschämen. Selbstverständlich ist es beschissen, fremde Hilfe zu benötigen und um diese auch noch bitten zu müssen, obwohl einem das schon endpeinlich ist. Aber trotzdem gehören sich Freundlichkeit und Dankbarkeit.
Meine Diskussionspartnerin hat am Bahnhof einer Rollstuhlfahrerin geholfen, die sich von ihr rund 45 Minuten durch die Stadt schieben lassen und sie dabei noch in einem unmöglichen Tonfall herumkommandiert hat. Als Krönung war sogar noch ein Abstecher auf eine Toilette drin, wo
die Rollstuhlfahrerin verlangt hat, auf die Toilette umgesetzt zu werden, festgehalten zu werden, da sie nicht frei sitzen könnte – am liebsten hätte sie noch den Hintern abgewischt bekommen. Eine Beschwerde, dass das Hemd hinterher nicht richtig in der Hose steckt, war auch noch drin. Unglaublich, was sich manche Leute rausnehmen.
Ja, manchmal benötigt man als Rollstuhlfahrer fremde Hilfe. Ich finde
es schön, dass die meisten Menschen hilfsbereit sind. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich jung und weiblich bin. Ich würde niemals auf die
Idee kommen, fremde Hilfe vorauszusetzen oder mich, wenn ich Hilfe bekomme, nicht anständig dafür zu bedanken. Und ich würde nur dann um Hilfe bitten, wenn es wirklich gar keinen anderen Weg mehr gibt. Und mit
„gar keinen“ meine ich wirklich „gar keinen“. Dazu gehört auch, dass ich mich nicht aus Bequemlichkeit von anderen Menschen schieben lasse und vor allem, dass ich nicht etwa wildfremde Leute frage, ob sie mit mir auf die Toilette gehen. Sowas geht gar nicht.