Neues Halbjahr, neuer Stundenplan. Ich durfte heute ausschlafen, wenn ich gewollt hätte, sogar bis um 11, da ich erst um kurz vor 12 zur ersten Stunde gemusst hätte. Das ist so, weil ich pro Tag nicht mehr als
vier Unterrichtsstunden machen soll. Würde ich öfter anwesend sein, würde ich meinen Rentenanspruch verlieren. Das will ich natürlich nicht.
Aber es kann mir ja niemand verbieten, den Sportkurs zu besuchen, der
ab 10 Uhr im Schwimmbad das Wasser umrührt. Und mit „besuchen“ meine ich nicht „offiziell teilnehmen“, sondern regulär Eintritt zahlen und als Gast das Schwimmbad besuchen. Die Anlage ist groß genug, für Schulen
wird nur ein komplettes Becken abgetrennt, der Rest ist für jedermann zugänglich.
Ich schwimme so gerne! Uschi, unsere Sportlehrerin, geht schon auf die 60 zu, lässt es sich aber nicht nehmen, noch selbst Sport und Schwimmen zu unterrichten. Normalerweise gibt es in Hamburg keinen Schwimmunterricht mehr durch Lehrkräfte, das macht das Schwimmhallenpersonal. Allerdings nicht bei reinen Sportlehrern, die können ja nicht in ihrem anderen Fach mehr Stunden übernehmen, so dass diese dann doch noch Schwimmen unterrichten dürfen. Und so eine reine Sportlehrerin ist unsere Uschi.
Ich habe sie vorher gefragt, ob sie das doof findet, wenn ich einfach
parallel zur Schulzeit, wo der Rest meines Jahrgangs Schwimmen hat, privat in dieselbe Schwimmhalle komme. Nein, im Gegenteil, sie fand es gut. Es gibt aber weder ein „anwesend“ noch am Ende eine Note, ich müsste Eintritt zahlen und dürfte eigentlich auch nicht mit in dasselbe Becken. Eigentlich.
Ich war tierisch aufgeregt. Weil ich nicht wusste, ob und wie das alles mit dem Umziehen funktioniert, habe ich mich zu Hause bereits schwimmfertig gemacht. Ich muss mich ja hinten zustöpseln, oder sagen wir mal, es ist besser. Warmes Wasser und die intensiven Körperbewegungen können die Darmtätigkeit anregen und das muss nun wirklich nicht sein. Es gibt aber so genannte Analtampons, die genauso funktionieren wie die Tampons für vorne und für hygienische Verhältnisse
beim Schwimmen sorgen.
Am Ende war ich froh, dass ich das bereits zu Hause gemacht habe, denn die Behindertenumkleide und -dusche war in dem Bereich, der nur für
die Schulen freigegeben war. Ich konnte mit Engelszungen reden, wenn ich in den „öffentlichen“ Bereichen nicht klar kommen würde, müsste ich nachmittags wiederkommen. Was für eine Kundenfreundlichkeit! Zumal keine
weitere Person meines Jahrgangs diese Rollstuhlumkleide nutzt, sie steht leer! Die andere Rollstuhlfahrerin ist vom Sport befreit. Egal. Ich zog mich auf dem Gang aus, Badeanzug hatte ich ja schon drunter, donnerte die Sachen in irgendeinen Schrank, geduscht hatte ich zu Hause (in die normalen Duschen kam ich ja auch nicht rein) – ab in die Halle.
Mein Jahrgang war noch nicht da, also nutzte ich das öffentliche Becken und schwamm sechs Bahnen, dann sah ich Uschi. Alleine in der Halle. Als ich winkte, stellte sie ihre Tasche auf die Wärmebank und kam
zu mir. „Sie sind ja doch hier. Wollen Sie nicht mit nach drüben kommen?“ – „Ja doch, gerne.“
Sie ging wieder rüber, ich setzte mich wieder in den Rollstuhl und fuhr nach drüben in den für den Schulsport abgetrennten Teil der Halle. Und wartete. Uschi füllte irgendwelche Zettel aus, nach und nach kamen meine Mitschüler dazu. „Schwimmst du mit?“ fragte mich eine von ihnen. Ich nickte freundlich, dachte aber gleichzeitig: „Nö, ich sitze hier zum
Spaß im nassen Badeanzug.“
Es gab ein paar Verhaltensregeln (keine Leute reinstoßen, wir haben nur die Bahnen 7 und 8, es wird vorher geduscht) und dann kam die Ansage: „Wer nicht mitschwimmt, braucht ein Attest.“ Sandra, die sich anscheinend sicher war, dass Uschi nichts von alledem, was sie sich im letzten Halbjahr schon geleistet hatte, mitbekommen hat, fügte hinzu: „Oder einen Behindertenausweis.“
Es lachte … keiner! Uschi ging auf Sandra zu und ich dachte, sie knallt ihr eine. Sandra zog den Kopf zwischen die Schultern und wurde sichtbar nervös. Dreißig Zentimeter vor ihr stehend sprach sie sie an: „Haben Sie einen Behindertenausweis?“ – „Sehe ich so aus?“ – „Sie schreiben mir bis morgen handschriftlich eine DIN-A4-Seite darüber, warum man mit einem Behindertenausweis nicht automatisch vom Schulschwimmen befreit ist und ob man jedem Menschen seine Behinderung ansieht. Das lassen Sie mir von Ihren Eltern unterschreiben und wenn das
bis morgen 10.00 Uhr nicht im Lehrerzimmer in meinem Fach liegt, erteile ich Ihnen einen Tadel.“
Sandra schluckte. Das saß besser als jede Ohrfeige. „Möchte noch irgendjemand einen dummen Spruch machen oder können wir jetzt mit dem Unterricht anfangen?“ – „Entschuldigung, können Sie das Thema nochmal wiederholen?“ fragte Sandra kleinlaut. Sie bekam als Antwort: „Nein, hören Sie zu oder fragen Sie Ihre Mitschüler. Nach der Stunde.“ Es war mucksmäuschenstill, nur das Wasser rauschte. Keiner sagte auch nur einen
Piep. Ich bin kein Fan von extrem autoritären Lehrern, aber Uschi hatte
ich ja auch schon nett erlebt und nach der Antwort hatte sie bei mir gleich einen Stein im Brett.
„Gibt es jemanden, der nicht schwimmen kann?“ fragte Uschi. Alle guckten in die Runde, eine Mitschülerin sprach mich leise an: „Kannst du
schwimmen?“ Ich nickte. Sie machte einen erstaunten Gesichtsausdruck. Ich kam mir vor als käme ich vom Mond. „Gut, dann verteilen wir uns auf die Bahnen 7 und 8 und schwimmen jeder vier Bahnen hin und vier zurück, jeder in seinem Tempo und in seinem Schwimmstil. Es geht nicht um Zeit.“
Ich kraulte locker meine acht Bahnen und war die vierte oder fünfte. Ich konnte also locker mithalten.
Dann sollten wir nochmal zehn Bahnen schwimmen. 2 Brust, 2 Rücken, 2 Kraul, 2 Rückenkraul und 2 in einem ganz anderen Stil. Wer einen Stil nicht kann, darf stattdessen Brustschwimmen oder kraulen. Ich kann nur vier Stile, keine fünf, also habe ich am Ende nochmal gekrault. Es gab aber etliche dazwischen, die nur Brustschwimmen konnten und etliche, die
nur Brust und Rücken konnten. Also war ich mit meinen vier Stilen schon
gut. Dann mussten wir tauchen. Einmal tief, einmal weit. Das war auch kein Problem. Und dann war die Stunde auch schon vorbei. Die anderen durften, wer wollte, nochmal vom Dreier springen, ich durfte in die Behindertendusche – alles bestens. Nächste Woche will ich wieder mitschwimmen.