Tomaten auf den Augen

Gerade, wenn ich schon mittags mit dem Unterricht fertig bin, lohnt
es sich, auf dem Rückweg von der Schule noch kurz an einem Einkaufszentrum anzuhalten. Also hatte ich gestern abend bereits das ganze Leergut ins Auto gestellt.

Da ich keinen Einkaufswagen schieben kann, muss ich die Kisten einzeln auf den Schoß nehmen. Lose Flaschen habe ich, sofern es sich nicht um zwei oder drei handelt, die man überkopf zwischen die anderen Flaschen in einer Kiste stecken kann, in einer Klappbox. Entsprechend muss ich den Weg vom Auto zum Getränkemarkt vier, fünf Mal zurücklegen und habe am Ende dann auch vier, fünf Leergutbons.

Die Leergutbons sind nicht das Problem, auch das mehrmalige Hin- und Herfahren nicht, ein bißchen nervig ist, wenn die beiden Behindiplätze neben dem Getränkemarkt von nicht Berechtigten belegt wurden und man dann 400 Meter weiter bergauf auf dem nächsten Behindiplatz parken muss,
aber auch das ist nichts neues, über das man nun ständig wieder berichten müsste.

Der heutige Brüller war aber, dass ich mit eben solcher Klappkiste auf dem Schoß zurückrollte, die Heckklappe zuschmiss, mit dicken Handschuhen den Knopf auf meiner Fernbedienung suchte, um das Auto zu verschließen, mein Schlüsselbund in die Klappkiste legte und losrollte. Und in dem Moment rollte auch das Auto los, das neben mir parkte. Es stand schon die ganze Zeit dort mit laufendem Motor, aber nun hatte sich
die Fahrerin entschieden, loszufahren, und zwar ohne nach vorne zu gucken. Sie guckte vielmehr über die linke Schulter seitlich nach hinten, wo jemand gerade dabei war, Getränkereste aus Flaschen in einen Gully zu kippen. Ey hallo?!

Ich vermute, es war ein Automatikfahrzeug, welches nun mit dieser Kriechgeschwindigkeit vorwärts rollte. Ich rief „Hallo?“ und brüllte dann so laut es ging „EY!!!“. Die Fahrerin guckte weiter nach hinten, hatte laute Musik im Auto laufen, die man auch draußen wahrnahm. Das Auto rollte mit minimaler Geschwindigkeit, aber die 20 Zentimeter, die mir noch blieben, reichten nicht, um durch den Schnee zu flüchten. Ich nahm meine linke Hand vom Greifreifen, dann berührte das Auto meinen Rollstuhl. Zum Glück schob sie mich seitwärts über die Schneedecke. Ich streckte meinen Arm aus und klopfte mit der flachen Hand auf die Motorhaube. Sie schaute noch immer nach hinten. Ich kam mir vor wie ein Kämpfer, der nun auf der Matte lag und durch Schlagen mit der Handfläche
auf den Boden zeigte, dass er aufgab. Ich schlug nochmal auf die Haube.
Sie reagierte nicht, schob mich weiter.

Im Augenwinkel sah ich einen Typen, der seinen Einkaufswagen auf der Schräge mit zwei Rädern ins Blumenbeet bugsiert hatte, vermutlich, damit
er nicht wegrollte, und der nun, über Begrenzungsstangen springend, angesprintet kam. In diesem Moment überlegte ich, ob ich der Frau den gesamten Inhalt meiner Klappbox, mindestens zehn leere PET-Flaschen, über die Haube auf die Frontscheibe donnern sollte. Was aber, wenn sie dann aus Schreck Gas gibt? Ich nahm eine Flasche in die Hand. In dem Moment schaute sie nach vorne, erschrak sich und … bremste endlich. Über
eine halbe Autolänge hatte sie mich seitwärts geschoben, mindestens zwei Meter. Unfassbar.

Sie stellte den Motor aus und sprang heraus. Der Typ, der wie ein Hürdenläufer angesprintet kam, pöbelte gleich los: „Das muss man doch merken!“ – „Ich habe Sie nicht gesehen! Sind Sie verletzt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“ – „Nein, es ist nichts passiert, sie haben mich nur geschoben.“ – „Das ist mir so unangenehm, wie konnte das passieren!“ Ich konnte mir nicht verkneifen: „Ich würde nach vorne gucken, wenn ich vorwärts fahre.“ – „Ich hab nach vorne geguckt!“ – „Nee, Sie haben den Typen beobachtet, der da die Flaschen auskippt.“ – „Da haben Sie Recht. Und Sie wollen wirklich keinen Krankenwagen? Ich würde Ihnen einen rufen!“

Das ist doch mal nett. NEIN DANKE! Keine Verletzung, keine Beschädigung am Rollstuhl, nicht mal der Greifreifen zerkratzt, Plastik gegen Titanlegierung ist nun nicht wirklich dramatisch. Ich überlegte lieber nicht, was passiert wäre, wenn sie Gas gegeben hätte, so blieb mein Puls gerade noch unter 200.

Ein solcher Schreck pro Tag sollte eigentlich genug sein. Aber nein, auf der Rückfahrt fahre ich auf einer dreispurigen Straße. Auf der Spur,
die ich benutze, ist Stau, weil vorne eine Ampel zu wenig Autos über die Kreuzung lässt. Es geht nur langsam voran. Links neben mir ist eine ellenlange Linksabbiegerspur, die komplett frei ist. Noch weiter links fährt der Gegenverkehr. Von rechts kommt eine alte Frau mit einem alten grünen Polo aus einer Grundstücksausfahrt von einem Baumarkt. Weil es sowieso nicht weitergeht, halte ich so, dass sie vor mir auf meinen Fahrstreifen abbiegen kann. Stinkesocke einmal freundlich.

Was macht sie? Fährt vor, biegt aber nicht in meine Spur, sondern will in die nächste, in die Linksabbiegerspur. Ich schaue in den linken Außenspiegel und sehe, wie ein silberner Golf an der wartenden Schlange vorbeizieht. Er will vermutlich links abbiegen, hat den Blinker links gesetzt und fährt völlig korrekt auf der Linksabbiegerspur an der wartenden Schlange vorbei. Ich bin mir nicht sicher, ob die Frau den sieht, schaue also auf den Kopf der Frau und sehe, dass die überhaupt nicht in die zweite Spur guckt. Sondern einfach abbiegt. Also hupe ich, um sie auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Im selben Moment gibt sie schon Gas und … RUMMMS!

Der Golffahrer hat den Polo an der vorderen linken Ecke erwischt und zurückgeschoben. Aber mit rund 40 km/h. Wäre sie zehn Zentimeter weiter vorne gewesen, hätte es richtig gescheppert. So fiel beim Polo lediglich
die vordere Schürze ab. Na super. Was beim Golf beschädigt war, konnte ich nicht sehen.

Der Golffahrer blieb auf dem Linksabbiegerstreifen stehen, stieg aus und kam zu Fuß zurück. Die Polofahrerin, kreideweiß, stieg ebenfalls aus. Ich stieg natürlich nicht aus. Das fehlte noch, im Schnee mit dem Rollstuhl mitten auf der Straße. Ich stellte dann mal den Motor aus und machte das Warnblinklicht an und wartete, was die beiden denn nun vorhatten. Die Autos hinter mir begannen, über die Linksabbiegerspur im Slalom um die drei Autos herumzufahren. Der Golffahrer kam an mein Fenster.

„Sie haben das gesehen, oder? Ich würde Sie bitten, kurz hier zu bleiben, falls wir einen Zeugen brauchen. Eigentlich ist das eindeutig, aber man weiß ja nie. Das ist nämlich ein Firmenwagen.“ Ich sagte ihm, dass ich im Auto sitzen bleibe, weil ich Rollstuhlfahrerin bin. Schloss das Fenster und wartete. Genau drei Wochen habe ich es geschafft, ohne direkten Kontakt zur Polizei zu überleben! Wahnsinn!

Genau 17 Minuten dauerte es, dann hielt ein Polizeiauto hinter mir. Ich öffnete wieder das Fenster. Eine Frau und ein Mann stiegen aus. Die Frau sagte: „Huch? Wie ist das denn passiert?“ Der Mann antwortete: „Dahinten steht noch einer.“ Er kam zu mir ans Fenster. „Hallo. Sind Sie
unfallbeteiligt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nur Zeugin.“ – „Dann warten
Sie bitte noch einen kleinen Moment.“

Nun kam der Brüller Nummer Zwei für heute. Die Polofahrerin behauptete, ich sei Schuld. Ich hätte ihr durch ein Handzeichen signalisiert, dass sie fahren dürfe. Und als es mir nicht schnell genug gegangen sei, hätte ich gehupt und sie dadurch weggescheucht. Ja nee, is
klar. Gehts noch?

Ich habe kein Handzeichen gegeben. Mache ich grundsätzlich nicht. Ich
habe so gehalten, dass sie fahren konnte. Der Polizist sagte aber gleich: „Das spielt überhaupt keine Rolle. Wenn sie ein Handzeichen gibt, gibt sie das im Zweifel nur, um Ihnen zu signalisieren: ‚Ich habe dich gesehen, meinetwegen kannst du fahren!‘ Sie hat aber nicht die Funktion eines Einweisers. Davon konnten Sie nicht ausgehen. Also müssen
Sie selbst gucken, ob alle Fahrzeuge halten oder alle Spuren frei sind,
ob Radfahrer oder Fußgänger kommen. Und die Hupe ist ein Warnzeichen. Wenn Sie gehupt hat, dann im Zweifel, um Sie zu warnen. Sie musste sogar
hupen, wenn Sie das Unheil kommen sah. Ob sie es gesehen hat, weiß nur sie alleine. Sie ist ja nicht verpflichtet, auf die Nebenspur zu achten.
Insofern spielt es überhaupt keine Rolle, ob sie gehupt, gewinkt oder sonstwas gemacht hat – Sie hätten schauen müssen, bevor Sie abbiegen.“

„Ich möchte, dass auch die Daten der jungen Frau augenommen werden. Sie ist an dem Unfall beteiligt.“ – Der Polizist widersprach: „Nein, das
ist sie nicht. Sie ist allenfalls Zeugin, aber wir benötigen keine Zeugen, da die Sachlage anhand der Unfallspuren und der Aussagen der Unfallbeteiligten klar ist.“ Er schaute mich an: „Vielen Dank, aber wir brauchen Sie hier nicht mehr.“

Die Frau regte sich auf. „Das ist doch eine Frechheit! Sie ist am Unfall beteiligt und ich möchte, dass ihre Personalien festgestellt werden!“ – „Nein, das ist sie nicht. Sie können sich ja das Kennzeichen aufschreiben.“ So eine dumme Ziege! Ich fuhr weiter. Durch den Blödsinn war mein ganzes Tiefkühlzeugs bestimmt schon angetaut. Ich bin nur froh,
dass ich nicht der Golf auf der Überholspur war…

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