Heute rief mich eine Mitarbeiterin der Klinik, in der meine Mutter nach wie vor stationär behandelt wird, an, und bat mich, mit meiner Mutter zu sprechen. Bevor ich überhaupt etwas antworten konnte, wurde der Hörer bereits weitergereicht und augenblicklich war meine Mutter dran. Ich war so perplex, dass ich natürlich nicht sofort aufgelegt habe. So schnell kann man einfach nicht nachdenken und richtige Entscheidungen treffen. Aber hinterher ist man schlauer. Ich möchte entscheiden, mit wem ich rede und wann ich mit ihm rede – und nicht etwa
ein solches Gespräch aufgezwungen bekommen. Wenn jemand mit übermittelter Nummer anruft und ich entscheide, ich gehe nicht dran, dann finde ich es unmöglich, wenn er danach mit unterdrückter Rufnummer erneut anruft. Und wenn ich bei unterdrückter Rufnummer auch nicht dran gehe, finde ich es schon dreist, dann jemanden vorzuschicken, der dann das Telefon weiterreicht.
Das Gespräch war zuerst sehr nett, sie hat sich erkundigt, wie es mir
geht, was die Schule macht, ob ich neue Freunde gefunden hätte. Ich habe ihr auf oberflächlicher Ebene ein paar Dinge erzählt, aber noch während ich erzählte, warf sie mir bereits vor, sie nicht an meinem Leben teilnehmen zu lassen. Ich habe dann ohne darüber nachzudenken zurückgefragt: „Was mache ich denn gerade?“
Sie antwortete, dass das nicht das ist, was sie möchte. Sie möchte mit mir und meinem Vater zusammenleben. Ihr sei klar geworden, dass sie eine behinderte Tochter habe. Aber ihr sei auch klar geworden, dass sie eine gewisse Verantwortung für ihre Tochter habe und sie sie nicht einfach im Stich lassen könne. Sie wisse, dass sie mich im Stich gelassen hätte und dass ich in dieser Notlage einen Weg eingeschlagen hätte, der für mich am nächsten gelegen hat, als ein gemeinsamer Weg mit
meinen Eltern nicht mehr zur Wahl stand.
Soweit gut. Aber nun kommt es. Sie ist der Überzeugung, mir mehr bieten zu können als in einer Wohngemeinschaft mit anderen behinderten Menschen. Und dann ging diese „Du verkommst in einem Sumpf des Schicksals“-Arie wieder los. Diese behinderten Menschen seien eine Last für mich, sie machen mir das Leben schwer, ich würde von ihnen nur lernen, mich zu bedauern und mein Leid zu vermarkten.
Ich habe dann noch einmal versucht, ihr zu erklären, dass ich in meiner jetzigen Situation glücklich bin. Dann fing sie an, dass es jawohl nicht sein könne, dass ich glücklicher sei als bei meinen Eltern zu Hause. Ihr Leben habe sich jahrelang nur um mich gedreht und nun sei es nicht gut genug gewesen. Ich habe ihr gesagt, dass man die Situation heute nicht mit meinem Leben in meiner Familie vergleichen könne, da ich
damals keine Behinderung gehabt habe. Ich habe auch nicht gesagt, dass ich mich bei meinen Eltern nicht wohlgefühlt habe und dass ich unglücklich war. Aber in der jetzigen Situation bin ich so, wie es jetzt
ist, glücklich.
Wenn sie wirklich an meinem Leben teilnehmen will, dann erwarte ich von ihr, dass sie sich mit der Situation von behinderten Menschen überhaupt erstmal auseinander setzt. Dazu gehört für mich als erstes, zu
verstehen, dass man mit Selbstmitleid und Trübsal nicht weiter kommt. Keine Frage, dass es unter behinderten Menschen ebenso depressive und missmutige Zeitgenossen gibt, vielleicht auch in einem höheren Anteil. Aber in meinem Leben ist das im Moment nicht der Fall. Ich möchte als normaler Mensch behandelt werden, nicht als armes Ding im Rollstuhl. „Ich definiere mich nicht über meine Behinderung.“
Was antwortet sie? „Nein, definieren sollst du dich auch nicht darüber, aber du scheinst sie auch noch nicht realisiert oder gar akzeptiert zu haben. Vielleicht ist das nach so kurzer Zeit auch zu viel
verlangt. Ich habe in den letzten Wochen mir viele Gedanken gemacht. Du
bist vermutlich noch viel zu jung dafür.“
Genau. Ich bin zu jung, um behindert zu sein. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Oder lieber nicht, wenn man sich nicht übergeben will.
Wie schon gesagt: Hinterher ist man schlauer. Ich hätte gleich auflegen sollen.