Eine Erfahrung, die ich aus dem Leben vor meinem Unfall auch nicht kannte, mache ich seit einiger Zeit. Vor meinem Unfall habe ich ein wenig Reitsport gemacht, wie viele Mädchen. Davor habe ich mich beim Kinderturnen und bei Leichtathletik nicht wirklich wohl gefühlt, beim Schwimmen konnte ich nie einen Blumentopf gewinnen. In allen vier Sportarten gab es nicht nur einen ungeheuren Konkurrenzdruck, sondern kaum richtiges Miteinander. Man kam zum Sport, hatte dort seinen Trainingstermin, anschließend fuhr man wieder nach Hause. Die Leute aus den anderen Gruppen kannte man nicht, höchstens vom Namen – oder von irgendwelchen Bestenlisten her. Beim Reiten waren zwar ein paar Mädchen in meinem Alter, aber die waren mir damals alle zu hochnäsig.
Anders erlebe ich das beim Rollstuhlsport. Nun geht es sowohl beim Sprint, Biken und auch beim Schwimmen um persönliche Bestleistungen, aber trotzdem wird erheblich viel Wert auf Zwischenmenschlichkeit und Teamgeist gelegt. Ein sehr schönes Beispiel hierfür ist, dass viele Sportler früher zu den derzeit in Sporthallen stattfindenden Trainingsterminen kommen, um die vorher laufenden Nachwuchsgruppen zu unterstützen. So lernen zum Beispiel vor einem Trainingstermin die kleinen Zwerge, die wegen einer angeborenen Querschnittlähmung oder eines frühkindlichen Hirnschadens oder anderen fiesen Sachen schon mit drei, vier, fünf Jahren im Rollstuhl sitzen, spielerisch, wie sie mit dem Ding im Alltag zurecht kommen. Außerdem müssen sich natürlich auch behinderte Kinder bewegen und können nicht den ganzen Tag lang nur still in der Ecke sitzen.
Wenn ich es einrichten kann, komme ich auch immer etwas eher und helfe oder spiele noch ein wenig mit, bevor mein Trainingstermin stattfindet. Vor einigen Wochen lernte ich dabei Nele kennen, die mit ihren 13 Jahren schon verhältnismäßig alt für eine Kindergruppe ist. Nele ist seit Sommer 2009 in dieser Sportgruppe und wurde bis dahin von ihren Eltern in falsch verstandener Überfürsorge vor dem Leben beschützt. Ein leider scheinbar häufig auftretendes Phänomen. Sie hatte einen Rollstuhl, in dem sie nicht selbst fahren konnte, lediglich eine einzige gute Freundin, die sie mehr aus Mitleid als aus Freundschaft regelmäßig besuchte; wurde morgens vom Fahrdienst abgeholt und in eine Grund- bzw. nun Realschule gebracht, wo sie aber auch keinerlei individuelle Förderung bekommen hat – außer dass ein persönlicher Zivildienstleistender sich hin und wieder um sie kümmerte. Dann noch ein Krankengymnastiktermin pro Woche, ansonsten war ihr Leben nur ein Satellitendasein, in dem sich alles darum drehte, Kind zweier überforderter Eltern zu sein.
Anfangs wie ein scheues Reh, inzwischen auf Kurs zu wöchentlich neuen Aha-Erlebnissen, taut sie immer mehr auf und holt das nach, wovor die Eltern sie 13 Jahre lang beschützt haben. Ohne dass ich weiß warum, hat sie sich offenbar in mich vernarrt. Sobald ich in die Halle komme und die nächste Gelegenheit es zulässt, kommt sie auf mich zugestürmt, umarmt mich, knuddelt mich, erzählt mir alles mögliche und möchte, dass ich mit ihr weiter Rollstuhlfahren übe. In der letzten Woche stand ein besonderer Termin auf dem Plan: In Zweiergruppen, bestehend aus einem „Großen“ und einem „Kleinen“, wurde geübt, wie man S-Bahn, U-Bahn und Aufzug fährt. Rolltreppe fahren üben wir mit Kindern noch nicht, dazu sollen die Leute mindestens 16 sein und genau einschätzen können, was sie da tun.
Ich hatte -wie könnte es anders sein- Nele an meiner Seite. Getrennt von den Eltern zogen wir quer durch Hamburg, zusammen mit noch fünf anderen Zweiergruppen. Nele machte ihren Job sehr gut, sie ist sehr ehrgeizig. Sie erzählte mir, dass sie schon die ganze Nacht davor kaum geschlafen habe und seit morgens an nichts anderes mehr denken könne. Mit glühenden Wangen und knallroten Ohren konnte sie es kaum erwarten, dass es losgehen würde. Gemeinsam fuhren wir mit Bussen und Bahnen, erklärten den 10- bis 14-jährigen Jugendlichen, wie sie sich in Hamburg alleine (oder mit Freunden, die keine Verantwortung übernehmen, dafür aber körperliche Hilfestellung geben können) zurechtfinden. Natürlich hatte ich nur die Funktion eines „persönlichen Betreuers“ von Nele, Anleiter war jemand mit wesentlich mehr Erfahrung, von dem selbst ich, die fast täglich selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, noch etwas lernen konnte.
Kurz vor der Pause, die in der Mitte dieses Programms sein sollte, wurde Nele sehr still. Wir fuhren mit der U-Bahn in Richtung Hauptbahnhof und plötzlich kullerten einzelne Tränen. Sie wollte nicht mehr mit mir reden. War sie allgemein überfordert? Zu viele Eindrücke? War ihr kalt, hatte sie Hunger, Heimweh, war sie glücklich, traurig, dachte sie daran, dass dieser bis eben noch so schöne Tag, auf den sie sich so gefreut hat, bald vorüber ist? Es war nicht rauszukriegen. Sie schüttelte immer nur den Kopf und ich hatte das Gefühl, dass sie mit jeder Frage von mir ein bißchen verzweifelter wurde.
An dieser Stelle lernte ich zum ersten Mal, warum der Verein nur gut ausgebildete Leute als Übungsleiter einsetzt. Ich wurde zur Seite gezogen. „Solange es nicht schlimmer wird, lass sie erstmal in Ruhe. Entweder fängt sie sich gleich wieder, sonst gehen ein paar Leute vor und wir reden mit ihr zu dritt.“ Sie fing sich nicht. Zu dritt in einer ruhigen Ecke auf dem Bahnsteig der U-Bahn, die anderen waren schon vorausgefahren, nahm der Kursleiter ihre Hand und stellte ihr auf Anhieb die entscheidende Frage: „Weißt du, warum du weinst?“ Sie schüttelte nicht mehr den Kopf, sondern nickte.
„Möchtest du mir das sagen?“ Sie schüttelte wieder den Kopf. Es dauerte aber dennoch keine drei Minuten, bis der Kursleiter die Antwort wusste. Der für gleich geplante Toilettengang kam für sie etwas zu spät.
Dass sie es erst zu spät gemerkt hat, ist für Menschen mit frühkindlichem Hirnschaden zwar nicht typisch, aber auch nicht ungewöhnlich, wurde mir hinterher erklärt. Ungewöhnlich ist jedoch, dass sie, die dieses Problem seit nunmehr 13 Jahren hat, noch so extrem darauf reagiert und völlig hilflos ist. „Papa wird richtig dolle schimpfen“, schluchzte sie.
Wie gut konnte ich sie verstehen! Ich weiß sehr genau, wie froh ich bin, mit meinen Eltern dieses Thema nicht besprechen zu müssen. Hier im Blog, mit Freunden – kein Problem. Aber vor meinen Eltern wäre es mir nur peinlich und unangenehm. Bezeichnend war, dass sie keine Ersatzklamotten im Rucksack dabei hatte. Eine andere Helferin und ich wurden mit ihr auf Klo geschickt. Sie war völlig hilflos. Ich musste die komplette Verantwortung für sie übernehmen, ihr sagen, dass sie sich ausziehen soll. „Kannst du mir bei den Schuhen helfen?“ Zum Glück war die Behindertentoilette sauber.
So extrem, wie ich befürchtet hatte, war es nicht. Die größte Menge fand doch noch den Weg ins Klo. Ich zog mir Einmalhandschuhe an und spülte ihre nassen Sachen am Waschbecken partiell etwas aus, packte sie in einen Müllbeutel und drückte ihr einen Einmalwaschlappen in die Hand. Anfangs heulte sie Rotz und Wasser, aber als sie merkte, dass ich völlig ruhig blieb, beruhigte sie sich auch nach und nach. Sie erzählte mir, dass sie nicht merke, wie voll ihre Blase ist. Wenn sie zu voll wird, laufe sie irgendwann über. Das merke sie dann. Das sind dann zwar nur relativ kleine Mengen, sofern sie dann bald ein Klo finde und sie nicht noch durchgekitzelt wird, aber trotzdem erwarten die Eltern, dass so etwas nie und nimmer passiert. Am schwierigsten sei das, wenn sie aufgeregt und abgelenkt sei, dann vergesse sie oft, regelmäßig „auf Verdacht“ auf Klo zu gehen, oder wenn sie sich körperlich sehr anstrenge, wie beim Sport oder wenn sie alleine schwierige Sachen im Rollstuhl machen solle (Bordsteine rauf und runter fahren etc.).
In der Schule nach Klassenarbeiten etc. habe sie schon oft ihre Hose großzügig mit Deo eingesprüht, damit die Eltern zu Hause nichts riechen würden. Wie um alles in der Welt kann man nur jemanden, noch dazu sein eigenes Kind, so derbe unter Druck setzen? „Du kannst dir vorstellen, warum ich eine zweite Hose im Rucksack habe, oder?“ fragte ich sie. Sie schaute mich an und ich merkte, wie sie nachdachte. Sie schien bis zu diesem Zeitpunkt noch nie realisiert zu haben, dass es auch andere Menschen gibt, die selbe oder ähnliche Probleme haben wie sie.
Ich bat ihr an, für den Rest des Tages auch eine Pampers von mir zu bekommen. Sie schüttelte den Kopf. „Papa sagt, das ist was für alte Omas, die nicht mehr klar im Kopf sind und nicht mehr wissen, wann sie auf Klo müssen. Ich weiß es und ich muss nur rechtzeitig hingehen. Er sagt, wenn ich die Dinger anziehe, verlerne ich das und muss irgendwann ständig gewickelt werden.“
Ich sagte ihr, dass ich das ein bißchen anders sehe. „Natürlich sollst du nicht aufhören, regelmäßig auf Klo zu gehen. Du sollst ja nicht absichtlich in die Pampers machen. Aber wenn was passiert, ist es doch besser, wenn nicht alles nass wird. Ich glaube, du bist alt genug, dass du damit wie eine erwachsene Frau umgehen kannst und nicht wie ein Kleinkind, das aus Bequemlichkeit lieber weiterspielt und solange in seinem Saft sitzt, bis die Windel auch noch überläuft.“ Ein kaum sichtbares Lächeln huschte durch ihr tränenbenetztes Gesicht.
Ihre größte Sorge war, was wohl ihre Eltern dazu sagen würden, dass sie mit fremder Hose und Pampers zurück käme. Da beide Eltern sie abholen wollten, bat ich ihr an, dass der Kursleiter mit den Eltern spricht. Dass sie zustimmte, konnte aus meiner Sicht nur bedeuten, dass sie glaubte, nichts mehr verlieren zu können.
Ich möchte es an dieser Stelle abkürzen. Der Kursleiter und eine Übungsleiterin sprachen mit den Eltern, ich durfte dabei sein, sollte aber nichts von mir aus sagen, wenn ich nicht gefragt werde. Die Mutter war aus meiner Sicht noch zugänglich, dem Vater war es eher peinlich. „Sie wird einfach nicht erwachsen, vergisst sich, sobald es spannend wird, wie ein kleines Kind beim Spielen.“ Das war der Punkt, an dem der Kursleiter zu einer Gehirnwäsche ansetzte. Zwar freundlich, aber extrem deutlich verlangte er vom Vater, Selbstbestimmungsrecht und Intimsphäre der Tochter zu respektieren. Es folgte eine sehr sachlich und ruhig geführte Diskussion, in der der Vater anfangs noch überzeugt gegenan redete, später aber den Kopf immer weiter einzog. „Es geht Eltern heute schlichtweg nichts mehr an, ob die Tochter Tampons oder Binden benutzt, wie oft sie masturbiert und welches Deo sie gut findet. Und wenn es nach Haribo Tropifrutti riecht: Sie müssen es sich ja nicht aufsprühen. Ihre Tochter braucht Gestaltungs- und Rückzugsräume. Sie braucht jede Menge Hilfe, aber Sie müssen Ihre Tochter dorthin führen, dass Sie sich die Hilfe holt. Vielleicht bei Ihnen, aber vielleicht auch ganz woanders. Sie muss lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Sie muss eigene Erfahrungen machen.“
Heute bekam ich von ihr einen Brief. Drei DIN-A4-Seiten mit Füller geschrieben. Auf der ersten Seite beschrieb sie den ganzen Tag aus ihrer Sicht. Was wir gemacht haben, wie sie das erlebt hat. Die letzten beiden Seiten beschreiben ihr Problem. Dass ihre Mutter mit ihr geredet hat. Der wichtigste Punkt: Sie hat ab sofort eine Wechselhose im Rucksack und sie bekommt ein Paket Pampers in den Schrank gestellt. Sie schreibt, dass sie erleichtert sei. Ich sei „wie eine Mutter“ zu ihr gewesen. Sie wisse nicht, wie sie sich bei mir bedanken solle. Sie habe mich sehr lieb.
Eigentlich habe ich doch nur einem Mädchen dabei geholfen, ein kleines bißchen erwachsener zu werden. Es hat mich nichts gekostet, es war nicht mal sehr anstrengend, es hat mir sogar noch Spaß gemacht. Ich hätte niemals geglaubt, damit so etwas auszulösen. Ich bin aufgewühlt und tief gerührt zugleich.