Spätestens seit diesem
Tag weiß ich, dass ich einen neuen Rollstuhl brauche, da der alte (so alt ist er zwar noch nicht, aber eben auch nicht mehr nagelneu) diesen Winter leider nicht überlebt hat. Allenfalls als „wirtschaftlicher Totalschaden“ durch Schnee, Salz, Split und scharfkantige Eisplatten auf
den Gehwegen.
Die Unfallkasse rief mich an und bat mich, mir von meinem Hausarzt einen neuen Rollstuhl verordnen zu lassen. Das war mir nicht ganz schlüssig, denn immerhin hatte die Unfallkasse doch bereits ein Gutachten des von ihnen selbst beauftragten Sachverständigen, wonach eine Reparatur unwirtschaftlich sei. „Wir brauchen aber trotzdem eine neue Verordnung, sonst können wir das nicht abrechnen. Der Arzt muss quasi bescheinigen, dass ein (bestimmter) Rollstuhl aus medizinischer Sicht (immernoch) die beste Therapie oder der beste Ausgleich Ihrer Behinderung ist. Ich bin nur Verwaltungskraft, ich darf keine medizinischen Entscheidungen treffen und das Sanitätshaus und der Gutachter sind nur Techniker, die können ebenfalls nur den Zustand des Geräts beurteilen, aber nicht, womit Sie aus medizinischer Sicht optimal
versorgt sind.“
Verstanden. Wir bauen uns einen Verwaltungsvorgang. Also packte ich den ganzen Zettelkram in meinen Papphefter und gurkte zu meiner Hausärztin. Ohne Termin, denn nur ein Rezept ausstellen kann ja nicht so
kompliziert sein. „Wir machen Urlaub! Vertretung machen Frau Dr. G. und
Herr A.“ Wie schön, dass man ein Navi hat. Herr A. war zwei Straßen weiter, hatte seine Praxis aber im ersten Stock ohne Aufzug und Frau Dr.
G. war … ebenfalls in Urlaub?
Laut Praxisschild war noch Sprechstunde, aber alle Rolläden waren heruntergelassen. Es war ein Einfamilienhaus mit kleinem Grundstück, nett gelegen, eher vornehme Wohngegend. Ich parkte auf dem Grundstück, auf einem der beiden Praxis-Parkplätzen, baute meinen Rollstuhl zusammen
und stieg aus. In dem Moment, als ich die Tür zur Praxis öffnen wollte,
ging sie von innen auf. Eine Sprechstundenhilfe kam mit einem Eimer Spülwasser und einem Schwamm nach draußen und wollte die Eingangstür reinigen. „Haben Sie schon Feierabend?“ fragte ich.
„Nein, wir haben nur schonmal die Rolläden runtergelassen, weil seit einer halben Stunde keiner mehr gekommen ist.“ Hm. Bißchen dämlich, fand
ich. Denn ich wäre fast vorbei gefahren.
„Sie machen Urlaubsvertretung für Frau Dr. W., oder?“ – „Ist die schon wieder in Urlaub?“ fragte mich die Sprechstundenhilfe.
„Das steht zumindest an der Tür“, sagte ich. Wie pampig ist das denn? Kein Wunder, wenn da keiner hingeht.
„Dann wird es wohl so sein“, sagte sie.
„Ich wollte mir eigentlich eine Verordnung abholen, aber habe dann erst vor der Tür gesehen, dass sie in Urlaub ist. Ich habe zur Zeit nur einen Ersatzrollstuhl und die Unfallkasse bräuchte eine neue Verordnung,
weil der andere ein wirtschaftlicher Totalschaden ist.“
„Dann brauche ich mal Ihre Karte und dann frage ich Frau Doktor.“ Ich
wartete vor der Tür im Sonnenschein (drinnen war schon alles dunkel), dann kam Frau Doktor raus, mit einer Tasse Tee in der Hand und pampte mich ebenfalls an: „Das hat doch wohl Zeit bis nächste Woche oder wann ist die Kollegin wieder da? Ich weiß doch gar nicht, wieviele Rollstühle
Sie schon zu Hause stehen haben und ob Sie sich vielleicht jedes Mal, wenn Frau Dr. W. im Urlaub ist, einen neuen aufschreiben lassen.“
Arschi! Ich kann nichts dafür, dass deine Praxis heute so leer ist! Ich erwiderte: „Hm, wenn ich das wollte, könnte ich ja auch jede Woche einen neuen Arzt aufsuchen. Also auch ohne, dass jemand in Urlaub geht. Meinen Sie nicht, dass die Kasse nachfragen würde?“ – „Mag sein“, antwortete sie schnippisch. „Fragen Sie nächste Woche Ihre Ärztin, wenn die wieder da ist.“
Super. Sie schwirrte ab und es kam ihre Sprechstundenhilfe wieder zurück. Mit meiner Karte in der Hand. „Ich bekomme dann noch 10 Euro von
Ihnen. Praxisgebühr. Oder haben Sie eine Befreiung?“ – „Ich bin minderjährig.“
„Na klar, deswegen fahren Sie ja auch alleine Auto. Wissen Sie, ich glaube ich weiß, warum Frau Doktor Ihnen nichts aufgeschrieben hat.“ – „Ich habe einen Führerschein mit 17.“ – „Und wo ist Ihre Begleitung?“ – „Ich brauche keine Begleitung, ich habe einen regulären Pkw-Führerschein.“ – „Jaja. Und ich kriege jetzt 10 Euro von Ihnen.“
„Selbst wenn ich 18 wäre, für mich zahlt die Unfallversicherung und nicht die Krankenkasse. Die Unfallversicherung kennt keine Praxisgebühr.“ – „Dann haben Sie bestimmt eine Bescheinigung darüber.“ –
„Nein, denn die bekommen erst Volljährige. Sie haben die Karte doch ausgelesen, dann sehen Sie doch mein Geburtsdatum.“ – „Das ist mir hier alles nicht geheuer. Ich würde sagen, Sie zahlen die 10 Euro und bekommen eine Quittung, und wenn das alles rechtens ist, was Sie hier sagen, können Sie die ja von Ihrer Kasse wieder zurückholen.“ – „Das kommt nicht in Frage.“ – „Dann behalte ich Ihre Karte.“ – „Ja, ist in Ordnung. Ich werde das dann so meiner Kasse mitteilen.“
In dem Moment kam die Ärztin von hinten angerauscht, drückte mir fast
gewaltsam meine Chipkarte in die Hand und sagte: „So, und Sie verschwinden jetzt hier.“ Ich konnte mir nicht verkneifen: „Es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben.“
So eine Zickenfarm. Natürlich hätte ich gleich entscheiden sollen, dass ich eine Woche warte, bis „meine Hausärztin“ wieder aus dem Urlaub zurück ist. Darüber habe ich in dem Moment nicht nachgedacht. Außerdem fahre ich auch ziemlich lange dorthin. Es hätte so einfach sein können. Aber dafür weiß ich jetzt, wohin ich nicht gehe, wenn ich irgendwann mal
einen neuen Arzt suchen sollte.