Nun ist sie wieder weg. Es war ein aufregendes Osterwochenende. Und der Höhepunkt war unser Straßentraining in der Nacht auf Ostermontag. Wir alle hatten eine viel zu lange Winterpause, aber für Lisa war es das allererste Mal. Bisher hatte sie nur auf dem Sportplatz, in der Sport- und in der Schwimmhalle trainiert. Ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Straßentraining, an dem ich teilgenommen habe, bevor ich mir so recht überlegen konnte, ob ich das überhaupt wollte.
Dass das nachts stattfindet, hat lediglich den Grund, dass nachts kaum Verkehr auf den Straßen ist. Auch wenn man mit Rennrollstühlen locker 30, teilweise sogar 50 km/h erreichen kann, die Beschleunigung und die Verzögerung entsprechen nicht dem eines normalen Autos, daher wäre unser Training im normalen Straßenverkehr ein absolutes Verkehrshindernis. Wir wurden von Tatjana ausdrücklich schon per Mail darauf aufmerksam gemacht, dass durch den Winter viele Straßen kaputt sind und wir jederzeit mit tiefen Schlaglöchern rechnen müssten. Sie ist
die Strecke vorher mit dem Auto abgefahren und es gibt derzeit noch zwei ganz heftige: Eins an der Buskehre Övelgönne und eins in der Ebertallee, kurz vor dem Osdorfer Weg. Aber auch weniger heftige, die für Autofahrer kaum merkbar sind, können für Rennräder oder Rennrollstühle schon gefährlich werden.
Die Strecke war 26 Kilometer lang, in erster Linie verlief sie über die Elbchaussee stadteinwärts, dann durch den Halbmondsweg in Richtung Luruper Hauptstraße und von dort noch ein einer Schleife über die Elbgaustraße zu einer Sporthalle, in der wir nachts noch duschen und die Rennrollstühle unterstellen und am nächsten Tag reinigen können (sofern sich nicht sowieso schon der Hausmeister die Stühle mit einem Hochdruckreiniger vornimmt, was er immer sehr gerne macht). Einige, wie zum Beispiel Simone oder Yvonne nehmen ihre Stühle auch immer selbst wieder im Auto mit.
Da es sich nicht um einen Marathonwettkampf handelt und gerade, wenn wir lange nicht trainiert haben und neue Leute, wie Lisa, dabei sind, fahren wir ja nicht die ganze Zeit Höchstgeschwindigkeit, so dass man für die Strecke mindestens zwei, eher drei Stunden einplanen muss. Drei Stunden ist gerade für Neulinge eine enorme Herausforderung. Die Körperhaltung mit stark angewinkelten Beinen ist anstrengend, ebenso die Belastung der Hände, der Arme und der Schultern. Muskelkater ist vorprogrammiert. Besonders wichtig ist bei diesen Nachttemperaturen auch, dass es nicht regnet. Was im Sommer durchaus angenehm sein kann, ist zu dieser Jahreszeit ein ernsthaftes Problem, man würde wirklich zu schnell auskühlen. Zumal man keine Regenkleidung tragen kann und auch keine Kleidungsstücke tragen sollte, die sich im Rad verfangen könnten.
Pflicht ist auf jeden Fall ein Fahrradhelm, dazu gibt es eine Empfangseinheit mit Knopf im Ohr, damit man hört, was die Trainerin im Begleitfahrzeug sagt. Wenn man etwas langärmliges trägt, müssen die Ärmel auf jeden Fall ganz eng anliegen, empfehlenswert sind Armwärmer aus dem Rennradsport. Ansonsten kann man ein oder mehrere T-Shirts tragen, eventuell auch über einem Einteiler, der aus Oberteil und Hose besteht. Bei der Hose ist es besonders wichtig, dass sie keine Falten hat, da man sich sonst sofort Druck- und Scheuerstellen holt, was bei Leuten, die ihre Beine nicht spüren, in doppeltem Maße schlimm ist: Sie merken es nicht und wegen schlechter Durchblutung der Beine heilen Verletzungen auch kaum ab. Mit einem aufgeschlagenen Knie kann man locker schonmal ein Jahr zu tun haben. Schuhe gibt es keine. Wenn man, so wie Yvonne, regelmäßig seine Socken verliert, sollte man versuchen, eine Hose oder einen Einteiler mit Füßen zu finden. Die Füße hängen in der Luft, über der Straße, unter dem Gesäß.
Auf dem Foto kann man eine Sache sehr genau erkennen: Während man auf dem Sportplatz höchstens mal mit etwas Sand und Staub zu kämpfen hat, darf man bei einem Straßentraining oder sogar Straßenrennen nicht zimperlich sein. Rennrollstühle sind zum Geradeausfahren gebaut, da kann man nicht jeder Pfütze ausweichen. Auch die Autos, die einen überholen, tun das meistens nicht. Gerade auf nassen Straßen sieht man hinterher aus wie eine Drecksau: Der ganze Schmutz spritzt hinter dem Vorderrad hoch und je nach Geschwindigkeit auch gerne mal bis zu den Füßen oder Knien. Und alles, was die Hinterräder aufwirbeln, bekommt man gegen Rücken, Schultern und Ellenbogen.
Gerade bei Intervalltraining oder so genannten Pyramiden, wo Leistung entweder ein paar Mal hintereinander in einem festen Zeitrahmen abgerufen wird oder wo in vorher festgelegten Intervallen Höchstleistungen für eine zu- und später wieder abnehmende Zahl von Minuten abgefordert wird, hat man keine Chance, sich um rinnende Schweißströme, die einem über das Gesicht laufen und unter dem Helm zu jucken anfangen, zu kümmern. Genauso wenig um laufende Nasen oder eine verschleimte Kehle. Wie man so genannte Rotzraketen so abfeuert, dass man sich nicht selbst damit im Fahrtwind beschießt oder sich komplett die Schultern oder Knie vollschnoddert, hat man irgendwann mehr oder weniger drauf.
Und auch das leidige Thema, dass man in den zwei bis drei Stunden, gerade wenn man viel trinkt, um nicht zu dehydrieren und keine Bauchkrämpfe zu bekommen, ständig pinkeln muss, ist jedes Mal wieder aufs Neue aktuell. Gerade bei Menschen, die eine Rückenmarkverletzung oder -erkrankung haben, ist die Blasenkontrolle ja häufig unterbrochen. Einige lassen sich den Blasenmuskel durch Medikamente (wie Oxybutynin oder hochdosiertes Tolterodin) lähmen, so dass sich die Blase niemals von alleine entleert (sondern sich das eher in die Nieren hochstaut, wenn man nicht rechtzeitig mit einem Einmalkatheter durch die Harnröhre die Blase entleert), andere tragen Pampers, die das, was unkontrolliert rausläuft, aufsaugen. Beides ist mit stundenlangem Training oder bei Wettkämpfen nicht besonders kompatibel, denn zwischendurch unter möglichst sterilen Bedinungen am Straßenrand zu kathetern, gestaltet sich sehr schwierig und zeitaufwändig, und im Rennrollstuhl Pampers zu tragen bedeutet vorprogrammierte Druck- und Scheuerstellen. Irgendwie haben wir aber bislang immer eine Lösung gefunden: Sobald das Training über 2 Stunden geht, werden 10 bis 15 Minuten Pause für die Kathetermäuse eingelegt. In Wettkämpfen, die länger als 90-120 Minuten dauern, muss vorher mit dem Arzt die Medikamentendosis einmalig so angepasst werden, dass sich das nicht in die Nieren hochstauen kann (also von alleine rausläuft – das, was man sonst mit den Medikamenten gerade verhindern will). Die kurze Halbwertszeit dieser Medikamente ist hier eindeutig von Vorteil. In jedem Fall ist dieser Sport, wenn man ihn professionell betreibt, bei Menschen mit Rückenmarksverletzung in dieser Beziehung immer eine ziemliche Sauerei. Man kann sich darüber aufregen, sich davor ekeln oder es einfach als gegeben hinnehmen, hinterher gründlich duschen, die Klamotten waschen und den Rollstuhl reinigen.
Anders ist es allerdings bei Spastikern, die meistens volle oder nur leicht eingeschränkte Kontrolle über ihre Blase haben. Da ist ja kein Nervenkanal unterbrochen, lediglich eine Schädigung im Gehirn führt zu Bewegungslähmungen oder unkontrollierten Muskelspannungen. Die können im Alltag meistens auch ganz normal auf Toilette gehen, manche haben lediglich kein gut ausgebildetes Gefühl dafür, wann es mal wieder sein muss. Lisa, die durch ihren frühkindlichen Hirnschaden eine spastische Lähmung hat, gehört zu jener Gruppe rollender Behindis, die ganz normal auf die Toilette gehen kann. Womit wir endlich wieder beim Thema „Lisa“ wären, die zu diesem berühmt-berüchtigten Thema einen großen Beitrag geleistet hat, den ich meinen Lesern nicht vorenthalten möchte.
Lisa war bereits den ganzen Ostersonntag Feuer und Flamme und der Tag konnte nicht schnell genug vorbei gehen. Sie fragte sowohl Cathleen als auch Simone, die bei Cathleen zu Besuch war, als auch mir permanent irgendwelche Löcher in den Bauch. Ob schonmal jemand eingeschlafen ist mitten in der Nacht, ob wir schonmal von der Polizei angehalten oder von einer Radarfalle geblitzt wurden, ob sich schonmal jemand verletzt hat, wie cool es wohl wäre, mit der ganzen Horde mal bei Mc Donald’s durch die Drive-In-Spur zu fahren … bis dann irgendwann die Frage kam, ob unterwegs irgendwo ein Klo ist. Cathleen verneinte das mit den Worten: „Nach zwei Stunden gibt es eine Pause, wo nachts keiner ist, so lange musst du entweder aushalten oder vorher in die Hosen machen.“ – Lisa wären fast die Augen rausgefallen. Sie guckte von einem zum anderen. Simone bestätigte: „Ja, ist so. Wir machen da ernsthaft Sport und keinen Eiertanz. Du bist da auch nicht auf einer Beautyfarm. Glaubst du, bei einem Marathon oder Triathlon halten die Sportler unterwegs an und werfen irgendwo eine Münze ein für ein öffentliches Klo, während die Konkurrenz in aller Seelenruhe überholt?“
Die Unterhaltung hatte zur Folge, dass Lisa uns zu diesem Thema bis in alle Einzelheiten ausfragte. Sie kannte ja etliche Leute bereits vom Training auf dem Sportplatz. Sie wollte nun wirklich im Detail über jeden einzelnen Bescheid wissen („Und wie ist das bei der?“) – und ihre größte Sorge kam zum Schluss: „Nur mal angenommen, also wirklich nur mal angenommen, wenn mir das auch passieren sollte, erzählt ihr das dann meinen Eltern?“ – „Möchtest du das vor ihnen verheimlichen?“ – „Das ist doch richtig peinlich!“ Soso *lach*.
Am Ende hat sie sich in unser Team super eingefügt. Es war zwar kalt, aber nicht zu kalt, und trocken. Niemand ist über ein Schlagloch gestürzt, alle waren noch besser in Form als befürchtet und alle waren froh, als sie am Ende im Bett lagen. Lisa wäre fast schon beim Duschen eingeschlafen, so fertig war sie. Und sie hat 12 Stunden am Stück geschlafen, nicht einmal mitbekommen, dass ich, als ich ausgeschlafen hatte, aufgestanden bin. Ja, Erschöpfung nach Sport kann sehr angenehm sein.
Als am Abend die Eltern kamen und sie abholten, redete sie ohne Punkt und Komma. Von dem kleinen Mann im Ohr, von Fahren im Scheinwerferlicht, von verschiedenen Trainingsaufgaben und von den mindestens 10 Streifenwagen, die uns mit Blaulicht entgegen gekommen sind und vermutlich zu einer Massenschlägerei auf der Reeperbahn oder in der Schanze wollten. Die Eltern haben sich bei uns mindestens 20 Mal bedankt. Ich glaube, sie haben es nicht bereut, mal ein Wochenende ohne ihre Tochter wegzufahren und ich glaube, die Tochter hat es nicht bereut, mal ein Wochenende etwas getan zu haben, was ganz viel Spaß macht.