Yes. Mit etwas Glück: Morgen nachmittag. Mit etwas weniger Glück: Übermorgen vormittag. Das hängt jetzt davon ab, ob der Hautarzt morgen Zeit für mich hat und alle seine Untersuchungen machen kann – oder eben nicht. Wenn nicht, werde ich spätestens am Donnerstag entlassen, wurde mir fest versprochen.
Inzwischen habe ich Catharina ohne große Mühe davon überzeugen können, dass wir zusammen schwimmen gehen. Eigentlich sollte sie im Rahmen der medizinischen Reha schon öfter mit ihrem Physiotherapeuten ins Schwimmbad, das hat sie jedoch abgelehnt und jedes Mal einen irren Aufstand geprobt. Irgendwann erzählte sie mir dann, dass sie Wasser noch
nie mochte und schon als Kind nicht baden gegangen ist. In der Schule gab es keinen Schwimmunterricht (das ist ja heute schon fast die Regel) und insofern war sie mit ihren 23 Jahren noch nie in ihrem Leben in einem Schwimmbecken oder im Meer! Ich wollte es erst nicht glauben, aber
ich wollte sie dann auch nicht zu sehr bloßstellen. Das kann doch nicht
wahr sein, dass jemand in seinem Leben noch nie nass geworden ist, außer vom Regen oder von der Dusche. Ich würde eingehen wie eine Blume, die man vergisst zu gießen, wenn ich nicht mehr schwimmen dürfte.
Was bei ihr gefruchtet hat, war meine Darstellung, dass ich finde, mich im Wasser frei und nicht-behindert bewegen zu können. Ich habe ihr gesagt, dass ich ganz fest davon überzeugt bin, dass sie schwimmen lernen wird. „Ich habe nicht mal einen Bikini“, sagte sie. Ich wollte auch nicht alleine mit ihr ins Wasser, das war mir dann doch zu gefährlich, da ich unmöglich einen ausgewachsenen Menschen im Wasser festhalten kann mit meiner eigenen Querschnittlähmung; ich wollte aber auch keinen Therapeuten dabei haben, der der Aktionen einen offiziellen Charakter gibt.
Also habe ich Sofie und Cathleen organisiert, die beiden kannte sie ja schon, und Cathleen hat ihr auch noch vorher einen Badeanzug gekauft.
Das Gute war: Wir waren (von der Pflicht-Rettungsschwimmerin, die am Rand Sudoko rätselte, abgesehen) völlig alleine. Badeanzug passte wie angegossen, Gummi-Rutschbrett auf die Beckenkante, Hintern rüber, … und nun? „Dreh dich auf den Bauch und lass dich langsam reingleiten. Und dann hältst du dich am Beckenrand fest.“ – „Ich glaub, ich will doch nicht.“ – „Vertrau mir.“ Bevor ich bis drei zählen konnte, drehte sie sich und rutschte auf dem Bauch ins Wasser, klammerte sich an einer Stange fest. Nur der Kopf schaute noch raus. „Die Abkühlung ist genial“,
meinte sie.
„Traust du dich, dein Gesicht ins Wasser zu legen?“ fragte ich sie nach einiger Zeit. Sie guckte mich entgeistert an, Cathleen machte es vor, Sofie auch, sie versuchte es zaghaft und verschluckte sich gleich. „Ja … nicht einatmen, du Nuss. Atme mal gezielt ins Wasser rein, mach mal ein paar Blubberblasen.“
Nach einer halben Stunde hatte ich sie soweit, dass sie sich flach auf den Rücken legte, den Kopf in meine Hand, und die Decke anschaute. Und ich konnte sie soweit ins Wasser legen, dass nur noch Mund, Nase und
Augen aus dem Wasser schauten. Und dann schwebte sie für einen Moment schwerelos im Wasser. Bevor sie zu zappeln anfing, griff ich wieder ihren Kopf und hielt ihn sicher aus dem Wasser raus. „Hast du das mitbekommen, du bist eben ganz alleine geschwommen?“
Jetzt hatte ich den Ehrgeiz in ihr geweckt. Sie wollte es noch einmal
probieren und noch einmal und noch einmal. Und dann kam die Quietsche-Ente ins Spiel. Sie selbst sollte bestimmen können, wann ich sie wieder festhalte, ohne dass sie den Mund aufmachen musste. Sobald sie die Quietsche-Ente drückte, quietschte es und ich halte sie wieder fest. Ansonsten schwebt sie solange im Wasser, wie sie es will und riskiert auch, dass ihr der eine oder andere Wasserschwall über das Gesicht läuft. Solange sie sich nicht bewegt, ist das Gesicht in Rückenlage ja nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche. Ich musste ihr noch ein paar Mal sagen, dass sie senkrecht zur Decke schauen
muss, sonst funktioniert es nicht, weil sie dann automatisch auch im Rücken und in der Hüfte mit einknickt, aber dann schwebte sie minutenlang alleine im Wasser.
So heiß wie es war, war noch keinem kalt, so dass ich ihr auch noch zeigte, wie sie sich vom Rücken auf den Bauch dreht. Einfach eine Hand mit angewinkeltem Arm über die Brust hinweg zur gegenüberliegenden Schulter führen und mit dem Daumen von außen gegen den Oberarm tippen. Alles andere passiert automatisch. Und dann: Zugreifen. Das konnte sie sofort und war nun in der Lage, am Ende jeder Bahn nach dem Beckenrand zu greifen.
Und nun kam die Übung, die am meisten Mut erforderte. Einfach mal das
Wasser mit den Händen an der Hüfte vorbei in Richtung Füße schieben. Und siehe da: Catharina schwamm. Sehr unbeholfen, sehr unsicher, aber sie kam vorwärts. Sofie war inzwischen aus dem Wasser geklettert und warf fünf große Rettungsringe ins Wasser. Hinterher erzählte sie, dass das lediglich ein psychologischer Trick ist, um die lange Bahn in mehrere kleine Abschnitte zu unterteilen. Catharina griff nicht einmal nach einem solchen Ring, sondern arbeitete selbständig daran, sich effektiver nach vorne zu bewegen. „Wenn du dir das Wasser im letzten Schwung noch unter den Po schiebst, gibt dir das so viel Auftrieb, dass du in dem Moment sicher einatmen kannst, ohne dabei Wasser zu schlucken.“
Nach zwei Stunden mussten wir aus dem Wasser. Ich hatte Angst um meine Haut, irgendwann wird es auch kalt und Catharina war am Ende ihrer
Kräfte. Als wir aus dem Wasser geklettert waren und uns lauwarm abduschten und abseiften, sagte Catharina: „Ich hätte nie gedacht, dass ich das schaffen würde.“ – „Ich freue mich richtig darüber, dass du das geschafft hast. Wenn du jetzt richtig gut übst, bist du schon bald soweit, dass du ganz alleine schwimmen gehen kannst. Völlig unabhängig von anderen Menschen.“ – „Hast du morgen nochmal Zeit?“
Als wir aus der Schwimmhalle kamen, standen draußen im Flur die Eltern. Die Mutter fiel ihrer Tochter gleich um den Hals, der Papa stand
da und heulte. Sie hatten das Spektakel, zumindest die letzten Minuten,
vom Flur gesehen. Im Flur sind mehrere große Fenster, durch die man in die Schwimmhalle gucken kann. „Ich freue mich so, dass du endlich Anschluss gefunden hast.“ hörte ich die Mutter irgendwann sagen, während
wir beschlossen hatten, die Familie mal alleine zu lassen. „Solche Eltern hätte ich mir damals gewünscht“, sagte ich nachdenklich zu Sofie.
„Man kann nicht alles haben“, antwortete sie. Und ermahnte mich quasi
durch die Blume noch einmal, sich an den Dingen zu erfreuen, die mir das Leben schenkt – und nicht neidisch dem hinterher zu trauern, was nicht geht. Auch wenn das, was nicht geht, oft sogar elementare Dinge sind. Sicherlich hat sie nichts dagegen, wenn ich es benenne, statt es zu verdrängen. Aber dennoch hat sie Recht: Man kann nicht alles haben.