Man könnte darüber streiten, ob es sinnvoll ist oder nicht, Rollstuhlfahrer im Regionalzug in einem Mehrzweckabteil einzuquartieren. Ich halte es für sinnvoll, dass die Stellfläche, die frei bleibt, wenn keine Rollifahrer mitfahren, auch noch von anderen Personen (zum Beispiel mit ihren Fahrrädern) genutzt werden kann. Oder von Leuten, die sich lieber auf Klappsitze setzen anstatt zu stehen.
Ich halte es allerdings für sinnlos, darüber diskutieren zu müssen, ob die Rollstuhlstellplätze in einem Zug mit etwa 600 Sitzplätzen bei Bedarf vorranging für Reisende im Rolli oder doch vielleicht für Reisende mit Fahrrad zu verwenden sind. Der Regional-Express von Hamburg nach Schwerin oder Rostock hat drei Fahrradabteile und ein Mehrzweckabteil. Das Mehrzweckabteil ist die einzige Möglichkeit für Rollstuhlfahrer, in dem Zug mitzukommen. Somit würde ich mich als Fußgängerin (wäre ich eine) mit meinem Fahrrad lieber in ein anderes Fahrradabteil quetschen, als einen anderen Menschen (im Rollstuhl) von der Mitfahrt auszugrenzen.
Anders ist es aber an der Tagesordnung. Da heute morgen keine S-Bahn zwischen Hauptbahnhof und Bergedorf fuhr, wollte ich den Regionalexpress nehmen, der auch in Bergedorf hält. Ich stellte mich an der Stelle auf dem Bahnsteig auf, wo üblicherweise die Tür zum Mehrzweckabteil hält. Nun muss ich nur darauf warten, dass der Zugbegleiter die elektrische Rampe ausfährt. Und während ich warte, räumen gefühlte 100 Reisende ihre
Fahrräder in eben dieses Abteil, bis das so voll ist, dass nicht mal mehr ein Fußgänger hinein, geschweige denn hindurch kommt. Und zu allem Überfluss werden die Fahrräder dann auch noch an den Haltestangen angeschlossen, so dass man auch nichts mehr verschieben kann. Und die Besitzer entfernen sich und machen es sich auf den Sitzplätzen bequem, während ich in meinem Rolli sitzend an der Tür lehne und auf den Zugbegleiter warte.
Wie auch sonst immer ließ dieser auf sich warten. Neu war heute, dass ein Typ dort stand, der, ungehört von den meisten, wenigstens versuchte, für ein wenig Ordnung zu sorgen. „Nun nehmen Sie mal ein wenig Rücksicht! Die Behinderte will auch noch mitfahren! Keine weiteren Fahrräder mehr! Die Behinderte will auch noch mit! Ey! Die Behinderte will auch noch mit! Hallo! Die Behinderte will auch noch mit!“ Seine Motivation in allen Ehren, nach dem ungefähr 15. Mal bat ich ihn, das ohnehin wirkungslose Geschrei zu unterlassen und mir nicht noch zusätzlich auf den Keks zu gehen. Was er natürlich genauso wenig verstand wie es ein anderer Typ kurz zuvor verstanden hat, dass ich nicht ungefragt angefasst werden möchte, wenn ich am Hauptbahnhof aus der S-Bahn aussteige. Stichwort: „Selbstbestimmtes Leben.“ So etwas soll es geben. Und es bedeutet: Ich entscheide, wann ich angefasst werden möchte. Eine Selbstverständlichkeit, die bei behinderten Menschen scheinbar nicht gilt.
Irgendwann kam die Zugbegleiterin. Mitte 50. Sah nur noch das Knäuel aus den gefühlten 100 Fahrrädern und sagte zu mir: „Da passen Sie nicht mehr rein.“ Na, ach was. – Früher hätte ich das mit einem Schulternzucken seufzend hingenommen, heute antwortete ich, auch wenn es mir schwer fällt, ständig um Rechte (?) kämpfen zu müssen: „Ja, würden Sie da dann bitte mal aufräumen?“ Sie guckte mich entsetzt an, überlegend, ob ich das wohl ernst meinen könnte. Ich ergänzte: „Naja, wenigstens eine Durchsage, mit der man die Besitzer zu ihren Fahrrädern bestellt. Anschließen geht jawohl mal gar nicht. Da muss doch ein Fluchtweg frei bleiben, oder? Und bei der Gelegenheit muss auch noch ein Platz für mich drin sein. Oder wollen Sie mich jetzt hier stehen lassen
und in einer Stunde proben wir dasselbe Theater noch einmal?“
„Ich kann nichts für Sie tun. Wir fahren in 2 Minuten ab.“ – „Das mag ja sein, aber nicht ohne mich. Ich bestehe auf mein Recht zur Beförderung.“ – „Sie sehen doch, dass der Zug voll ist.“ – „Ja voll mit Fahrrädern. Haben Sachen jetzt schon einen höheren Wert als Menschen bei der Bahn?“ – „Diese Diskussion ist lächerlich und die führe ich nicht mit Ihnen.“ Sagte sie, schaute am Zug entlang und wollte gerade ihr rotes Abfahrsignal heben, als Stinkesocke sportlich an der Dame vorbei auf die offene Tür zufuhr. Ohne Rampe ist der Absatz etwa 30 Zentimeter hoch. Angekippt auf den Hinterrädern schafft es der geübte Rollifahrer, diesen Absatz, wenn auch mit einem gehörigen Rumms, aber dennoch sicher hinabzufahren. Das alles ging so schnell, dass die Zugbegleiterin zwar zu schreien anfing, jedoch es nicht mehr verhindern konnte. Nach drei Sekunden war alles vorbei.
So stand ich auf der eingeklappten Rampe, mitten im Chaos zwischen den gefühlten 100 Fahrrädern. „Sie sind wohl nicht ganz dicht“, fuhr sie mich an, als sie nach Abfertigung des Zuges einstieg. Ich überlegte, ob ich ihr bestätigend von meiner Inkontinenz erzählen sollte, entschied mich dann aber für ein: „Das Maß ist gleich voll. Ich lasse mich von Ihnen nicht beleidigen.“ Der Zug fuhr ab und sie bestand darauf, meinen Fahrausweis zu sehen. Das erste Mal seit Monaten, dass einer meine Wertmarke kontrolliert. Und in Bergedorf, als ich aussteigen wollte, war sie nicht mehr da, obwohl sie wusste, dass ich dort wieder raus will. Hätten mir nicht ein junger Mann geholfen, die Stufe wieder hochzufahren, hätte ich so lange die Tür blockiert, bis jemand persönlich vorbei gekommen wäre.
Statt nun der Bahn zu schreiben, schreibe ich das lieber in meinen Blog. Schreibt man es der Bahn, kann nämlich das Geschilderte entweder nicht mehr nachvollzogen werden, die Zugbegleiterin hat den Fall ganz anders geschildert, ich habe irgendwelche Bestimmungen verletzt oder es handelt sich – wenn gar nichts anderes mehr geht – um einen bedauerlichen Einzelfall, den man nun dankend zum Anlass genommen hat, um den Betriebsablauf künftig zu verbessern.
Aufgemuntert hat mich dann ein weiterer Vortrag unseres Rollstuhlsport-Chefs im Sportverein. Dessen Aufforderung zum Tanz hat mir ja vor drei Wochen schon sehr gefallen. Heute ging es erneut um das öffentliche Bild eines behinderten Menschen. Und um das Bild zu beschreiben, was er am liebsten sieht, wäre „behinderter Mensch“ schon verkehrt. Es handelt sich um Menschen, die mit einer Behinderung versehen worden ist, salopp ausgedrückt.
Ich habe vor diesem Menschen ungeheuren Respekt. Um nicht zu sagen: Ich ziehe den Hut vor ihm. Er besitzt einen unheimlich wertvollen Schatz: Den Schlüssel zu den Herzen seiner Mitmenschen. Ich weiß nicht, wie er es macht. Er ist nicht aufdringlich. Sondern eigentlich, wenn man mal überlegt, von sich aus eher im Hintergrund. Aber dennoch: Er hat ein derart feines Gespür für sein Gegenüber (oder auch für Stimmungen in Gruppen), dass man manchmal denkt, er könne hellsehen. Er trifft genau den Ton. Ehrlich, direkt, aber trotzdem so charmant, dass er die schwierigsten Dinge vermitteln kann ohne dass ihm jemand böse ist. Im Gegenteil, man ist dankbar, dass man ernst genommen wird und jemand Klartext redet. Und man weiß trotzdem, dass er sein Gegenüber genauso lieb hat wie die anderen Menschen um ihn herum. Man merkt, dass seine Liebe gegenüber seinen Mitmenschen (ich glaube, das ist die richtige Formulierung) durch die Behinderungen seiner Mitmenschen nicht beeinflusst werden.
Und daher ist es auch äußert glaubwürdig, wenn er sich vor eine Menschenmenge setzt und dafür wirbt, dass es in die Köpfe der Menschen muss, dass Behinderungen Dinge sind, die nicht mit dem Wesen eines Menschen, der mit ihnen versehen worden ist, zu verknüpfen sind. Sondern dass eine Behinderung eine meistens unfreiwillig und ungefragt aufgedrückte Zugabe ist, die diesem Menschen wie ein Schatten durch das Leben folgt.
Es führt zu weit, an dieser Stelle auf den Rest einzugehen. Dafür müsste man hier den ganzen Vortrag abdrucken. Und den ganzen Vortrag habe ich nicht. Aber, um den Kreis zu schließen, dieser Vortrag hätte dem Idioten, der auf dem Bahnsteig stand und 15 Mal wiederholte: „Die Behinderte will mit!“ verdammt gut getan. Ich bin eben keine Behinderte.
Auch wenn ich im Rollstuhl sitze.