Heute war wieder einer dieser Tage, an dem ich nicht so genau wusste, ob ich einen Traum oder die Wirklichkeit erlebe. Kurzer Hinweis:
Es war die Wirklichkeit. Alpträume hatte ich seit meinem „Attentat“ auf meine Unfallgegnerin keine mehr.
Sofie und ich waren bei einem blau-weißen Discounter mit eigenem Sortiment einkaufen und standen an der Kasse an. Drei Kassen waren geöffnet, die Schlange reichte trotzdem durch den halben Laden. Man merkte, es war Monatserster. Wir wollten eigentlich schon vor einer Woche einkaufen, um genau das Gewühle zu vermeiden, aber irgendwie hat es zeitmäßig nie richtig gepasst.
Wir hatten insgesamt vier große Klappkisten schon rausgeschleppt und hatten die letzten vergessenen drei Kleinteile auf dem Schoß. Als Rollifahrer hat man ja nur begrenzte Tragekapazitäten, muss sich im Zweifel also mehrmals anstellen. Wir standen hinter einem Herrn im Anzug, übergewichtig, Halbglatze, schätzungsweise Mitte 50. Ihm war etwas zu warm…
Bei Sofie klingelt das Handy. Frank ist dran, Sofie geht ran, weil sie vermutet, er könnte noch schnell einen Herzenswunsch äußern. Plötzlich dreht sich der Typ vor uns um, mustert uns von oben bis unten,
deutet auf Sofie, die immernoch telefoniert, und sagt: „Warum fährt sie im Rollstuhl?“ Ich zucke nur gelangweilt mit den Schultern und nicke mit dem Kopf in Richtung der Schlange. „Es geht weiter“, sage ich. Eigentlich deutlich genug, die Geste, oder?
Nö. Er schaut einmal nach vorne, schiebt seine Einkaufskarre einen halben Meter weiter, dreht sich wieder zu uns und spricht Sofie direkt an: „Sitzt du wirklich im Rollstuhl?“ Sofie macht eine abweisende Handbewegung, dreht sich mit dem Oberkörper weg, immernoch telefonierend. Dann brüllt dieser Typ los: „Ich hab dich was gefragt!!!“
Ich bekam es richtig mit der Angst zu tun. Aber Sofie blieb cool: „Ich hab jetzt keine Zeit für solchen Scheiß.“ Oha, die Frau kann ja richtig patzig werden…
Der Typ zog ein grimmiges Gesicht und starrte Sofie an, als wenn er sie fressen wollte. Dann legte sie auf und der Typ hakte sofort ein: „Willst du wissen, warum ich das frage?“ – Sofie antwortete nur: „Nö. Da geht es weiter.“ Der Typ schob seinen Einkaufswagen wieder einige Zentimeter vor, drehte sich nochmal um. Und sagte: „Das sehe ich an deinen Beinen, die sind für eine Rollstuhlfahrerin viel zu dick.“ Mir fiel fast das Kinn runter. Hatte der ein Rad ab?
Sofie imponierte das überhaupt nicht: „Das ist ja schön.“ Drehte sich um. Hinter uns standen zwei junge Männer, um die 20 Jahre alt, von denen einer dem anderen gerade erzählte, dass er letzten Monat seine Großeltern in der Türkei besucht und noch im Meer gebadet hätte. Einer von beiden hatte zwei Becher Joghurt in der Hand. Sofie fragte sie: „Wollt ihr nicht vor?“ – „Oh ja, vielen Dank, sehr nett.“
Nun fing der Typ an, über die beiden hinweg weiterzupöbeln: „Willst du auf meine Frage nicht mal antworten? Oder müsstest du dann verraten, dass du in Wirklichkeit gar nicht behindert bist?“ Die beiden Jungs vor uns unterbrachen ihre Unterhaltung. Sofie antwortete: „Jetzt ist es bald mal genug.“ Der Typ setzte nochmal nach: „Du machst dich höchst verdächtig.“
Jetzt sagte der eine junge Mann zwischen uns zu dem Typen: „Alter, mach die Frauen nicht an, guck nach vorne, da gehts weiter.“ Der Typ riskierte eine dicke Lippe: „Wer redet denn mit dir? Bist du Türke oder Kurde?“ Ich dachte mir so: Gleich rastet einer von beiden aus und haut dem ein paar aufs Maul. Aber nein, die beiden schauten sich an. Der eine fragte: „Sag mal, hörst du das auch?“ – „Irgendwas brummt hier, oder?“ – „Ja, ganz eigenartig.“ – „Ist bestimmt die Eistruhe.“ – „Bestimmt.“ – „Oder ein Müllauto.“ – „Nö, Müllauto nicht. Das wird die Eistruhe sein.“
– „Willst du ein Eis?“ – „Nicht aus einer brummenden Eistruhe. Das ist mit nicht geheuer.“
Der Typ drehte sich nochmal zu uns und sagte laut: „Das ist doch sagenhaft, dass man auf eine einfache Frage keine Antwort bekommt. Bist du nun behindert oder nicht?“ Der eine junge Mann sagte erneut und diesmal ziemlich nachdrücklich: „Da vorne spielt die Musik!“ Unglaublich!!! Und dann ging er auch noch um die beiden Männer herum, stellte sich vor Sofie und fragte erneut: „Warum hast du so fette Beine?“ Jetzt platzte Sofie der Kragen: „Herrje! Sind Sie nicht ganz dicht oder was? Ich frag Sie doch auch nicht, wieso Sie trotz Diabetes Schokolade einkaufen! Lassen Sie mich in Ruhe und kümmern Sie sich um sich selbst, damit haben Sie genug zu tun.“ Etliche Leute schauten herüber oder drehten sich um, falls sie nicht sowieso schon die ganze Zeit guckten. Der Typ hatte nicht genug: „Es ist schon erstaunlich…“ – Sofie unterbrach ihn: „Ach halt die Klappe!“
Sie sagte zu mir: „Lass uns eine Reihe weitergehen.“ Dumm, dass wir schon so weit vorne waren und uns nochmal neu hätten anstellen müssen. Ein anderer Herr mit Hut mischte sich ein: „Nun lassen Sie doch mal die Mädchen in Ruhe. Was soll denn das.“ In diesem Moment sah ich hinter der Kasse einen Mann im weißen Kittel, der sich mit verschränkten Armen das Schauspiel anschaute. Als ich ihn anschaute, kam er in unsere Richtung und bahnte sich gegen den Strom den Weg durch die wartende Schlange. Stellte sich neben die beiden jungen Männer und lehnte sich mit verschränkten Armen mit dem Gesäß gegen das Laufband. Und wartete. Dann sagte der ältere Herr: „Was glotzen Sie so blöd? Haben Sie nichts zu tun?“
Als hätte der darauf gewartet, antwortete er: „Da vorne steht ein Herr vom Sicherheitsdienst. Dem geben Sie gleich mal ihren Namen. Und dann war es heute das letzte Mal, dass Sie hier eingekauft haben.“ – „Ich denke gar nicht dran.“ – „Gut, dann sind Sie vorläufig festgenommen und warten mit uns auf die Polizei zwecks Personalienfeststellung.“ Der Typ ließ alles stehen und liegen und ging wutschnaubend nach draußen. Sowohl der Mitarbeiter als auch der Typ vom Sicherheitsdienst ließen ihn ziehen. Der Mitarbeiter im weißen Kittel drängelte sich wieder durch die Schlange und sagte zur Kassiererin: „Der Spinner hat hier ab sofort Lokalverbot. Ich will den hier nicht mehr sehen.“ Die Kassiererin nickte.
Nebenan war ein Getränkemarkt. Hätten wir gewusst, was uns dort erwartet, wären wir zwischendurch noch woanders durchgebummelt. In dem Getränkemarkt arbeitet ein junger Mann mit einer kognitiven Einschränkung. Sein Job: Älteren und gehbehinderten Kunden die Kisten ins Auto laden oder, falls nötig, auch gleich den Einkaufswagen mit den Kisten drauf schieben. Der Typ nimmt seine Aufgabe bierernst, Sofie spricht ihn immer schon mit „Chef“ an. Er wäre am liebsten der Chef, klar. Ich glaube, der Typ ist derjenige, der auf dem ganzen Grundstück das meiste Trinkgeld bekommt. Er macht einen guten Job. Wenn gerade niemand gebrechlich genug aussieht, fegt er in seinem blauen Kittel und mit einem Besen in der Hand zum 20. Mal den Weg. So auch heute. Sofie sprach ihn an: „Hallo Chef, alles klar bei Ihnen?“ Er nickte aufgeregt. „Könnten Sie meiner Freundin und mir wohl bei ein paar schweren Kisten helfen?“ – „Aber selbstverständlich, junge Frau, das kann sofort losgehen!“, kam als Antwort. Mit leichtem Sprachfehler. Der Besen wurde weggestellt.
Wenn er uns hilft, kaufen wir immer gleich auf Vorrat ein. Acht Kisten. Während wir durch den Laden gingen, begegneten wir dem Typen von eben. Und er konnte es nicht lassen, nochmal anzufangen: „Ah, ich sehe,
behindert und behindert passt gut zusammen. Nur dass sie da“, er deutete auf Sofie, „eine Spinnerin ist.“ Er hatte noch nicht fertig gesprochen, da bog in forschem Schritt ein anderer Typ, ebenfalls ein ziemlicher Schrank (wenn man im Getränkemarkt arbeitet, bekommt man wohl automatisch ziemlich ausgeprägte Muskeln) im blauen Kittel aus dem Lager kommend um die Ecke. Ob er dem vorbeugen wollte, dass unser behinderter Schrank dem das Mundwerk poliert oder ob er seinem Kollegen beistehen wollte, weiß ich nicht. Jedenfalls stellte er sich vor unseren
Streithahn, streckte den Arm in Richtung Tür und sagte: „Raus. Sofort. Und lass dich hier nicht wieder blicken. Zisch ab.“ – Der Typ holte Luft, aber der Mitarbeiter fuhr ihm gleich über den Mund: „Ich will nichts hören. Raus. Hau ab!“
Während der Streithahn seinen Einkaufswagen stehen ließ und langsam in Richtung Ausgang trottete, ging der Mitarbeiter, die Fäuste geballt und die Brust rausgestreckt im Abstand von 50 Zentimetern hinter ihm her. Er laberte irgendwas. „Noch ein Ton und ich feuer dir ein paar. Raus jetzt. Und zwar zackig. Wirds bald.“ Als er wiederkam, erzählte ich ihm, dass der Spinner nebenan eben auch schon Hausverbot bekommen hatte. „So ein Wichser. Aber das liegt heute irgendwie am Wetter. Das ist schon der Dritte heute. Einer hat hier randaliert, der nächste war volltrunken und wollte hier im Laden rauchen.“
Ich beschwere mich ja so oft über meine Umwelt. Fehlende Zivilcourage und so. Das waren doch mal zwei sehr erfreuliche Beispiele, wo jemand mal Popo in der Hose hatte. Was mir immernoch nicht klar ist, ist, was die Aktion von dem Typen sollte. Was sollte das bringen? Selbst wenn Sofie einige Schritte laufen könnte, wäre es doch ihre Entscheidung, wann sie ihren Rollstuhl benutzt und wann nicht! Aber vermutlich war der Typ ohnehin ein bißchen krank im Kopf. Insofern lohnt es sich nicht, sich noch darüber aufzuregen. Aber die Zivilcourage der beiden Mitarbeiter war mir ein Posting wert.