Haste 5 Minuten Zeit? Vergiss es. Ich habe so viel geschrieben, da brauchste mindestens ne Viertelstunde. Ja is so. Kann ich nix dafür. Aber ich hab vorgewarnt… Achso und Cathleen hat das vorab gelesen und genickt. Geht los:
Schon am Sonntagabend erzählte mir Cathleen, sie würde heute früher ins Bett gehen. Sie bekomme ihre Tage, fühle sich nicht wohl. Eigentlich seien die noch gar nicht wieder dran. Sie hoffte, dass sie am Montag wieder fit sei, denn da würde sie noch eine wichtige Arbeit schreiben. Bei einigen Mitschülerinnen hätte ich jetzt böswillig vermutet, dass sie ihre Regel immer genau passend zu den unangenehmen Klausuren bekommen (einige machen daraus auch keinen Hehl), was allerdings in den meisten Fällen ziemlich schwachsinnig ist, weil es schon zu Beginn des Halbjahres klare Nachschreibetermine gibt. Bei Cathleen weiß ich allerdings, dass sie mir ehrlich sagen würde, wenn sie schwänzt. Warum sollte sie mich anlügen? Insofern hatte ich schon am Sonntagabend ein komisches Gefühl. Wenn Cathleen freiwillig früh ins Bett geht, weil sie sich nicht fühlt, ist wirklich irgendwas nicht in Ordnung.
Am Montagmorgen habe ich kurz bei ihr reingeschaut, da meinte sie, sie hätte Bauchkrämpfe und würde gleich am Vormittag zur Hausärztin fahren. „Schreib mir ne SMS, wie es dir geht!“ bat ich sie. Es kam keine SMS. Hatte sie vergessen. Es konnte ihr nicht gut gehen. Als ich mittags wieder zu Hause war, schaute ich als erstes nach ihr, sie lag im Bett, blass, leicht zappelig und unruhig. Sie sagte, die Hausärztin vermute einen Harnwegsinfekt, vielleicht auch eine beginnende Nierenbeckenentzündung. Sie habe ein Antibiotikum aufgeschrieben, das solle sie gleich nehmen, dann werden auch die Schmerzen besser. Wenn es zu schlimm werde, könne sie Buscopan versuchen. Davon habe sie bereits zwei genommen und zusätzlich auch 2 x 500 mg Paracetamol, so sei es „gerade auszuhalten“.
„Welches Antibiotikum hast du denn bekommen?“ fragte ich. Cathleen antwortete: „Keine Ahnung, das ist bestellt und soll heute abend ab 17 Uhr da sein.“ Ich erwiderte: „Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Du hast solche Schmerzen, können sie dir denn nicht was anderes geben?“ fragte ich. Cathleen fing an zu heulen und schüttelte den Kopf: „Die war so unfreundlich in der Apotheke und ich hatte keine Lust, mich mit ihr zu streiten. Mir geht es einfach nicht gut, verstehst du?“
Ja, verstand ich sofort. „Ich fahr da hin und hol dir was. Sollen die halt was anderes rausgeben oder sonst lass ich mir das Rezept wiedergeben und fahr zu einer anderen Apotheke. Irgendwo wird sich das ja auftreiben lassen.“ Sie nickte. War mir scheißegal, ob ich da was zuzahlen müsste, Hauptsache, Cathleen quält sich nicht so. Ich schmiss nur meine Schulsachen in mein Zimmer und fuhr sofort wieder los. In der Apotheke geriet ich genau an die Richtige: „Meine Freundin war vorhin hier und Sie haben ein Antibiotikum bestellt. Das wollte ich abholen.“
„Um 17 Uhr hatten wir gesagt.“ – „Ja, das geht nicht. Sie hat starke Schmerzen. Sie braucht jetzt was.“ – „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen.“ – „Dann würde ich gerne das Rezept wieder mitnehmen und weitere Apotheken abklappern, vielleicht hat es ja jemand da.“ – „Das hat mit Sicherheit niemand da.“ – „Ist das denn so was besonderes?“ – „Das Medikament nicht, das ist absolut gängig, das hätten wir sogar mehrmals da, aber die Ärztin besteht auf eine bestimmte Firma. Wir hatten in der Praxis angerufen und gefragt, ob wir auch von einer anderen Firma beliefern dürfen, aber das wurde abgelehnt. Es gibt halt gewisse Rabattverträge und Budgetbestimmungen und die Ärzte sind teilweise sehr eingeschränkt in dem, was sie aufschreiben dürfen oder aufschreiben wollen.“
Bürokraten-Alarm! Ich fragte: „Wenn ich draufzahle, geben Sie mir dann ein anderes Medikament?“ – „Das könnten wir ausnahmsweise machen. Eigentlich darf ich das nicht, aber wenn Ihre Freundin starke Schmerzen hat, schaue ich gerne, welches andere Präparat ich da habe. Das hier von … kostet beispielsweise 18 Cent mehr.“ – „Das nehm ich.“ Zu Hause angekommen, warf Cathleen gleich eine Pille ein – aber nichts passierte. Im Gegenteil. Um 17 Uhr rief ich für Cathleen bei der Hausärztin an, schilderte der Arzthelferin, dass sie heftige Schmerzen habe. Es hieß, sie frage die Ärztin. Zehn Minuten später rief die Arzthelferin zurück, die Ärztin habe gesagt, von Buscopan und Paracetamol 500 könne man bis zu 4 Tabletten pro Tag nehmen, also solle sie noch welche nehmen. Und eine Wärmflasche und heißer Tee täten gut. Als wenn sie das nicht schon lange probiert hätte.
Kurz danach wurde es aber etwas besser. Wahrscheinlich, so dachten wir, zeigt das Antibiotikum erste Wirkung. So etwas dauert ja. Und nicht die Bakterien selbst tun ja weh, sondern die mögliche Entzündung, und die wird ja wiederum nicht vom Antibiotikum selbst bekämpft, zumindest nicht direkt.
Um 20 Uhr hatte ich ihr einen frischen Tee gemacht und brachte ihn ihr aufs Zimmer. Sie sagte, es gehe schon wieder los. Da saß sie allerdings im Rollstuhl. Ich redete einen Moment mit ihr, dann fuhr sie zum Bett, schmiss sich aufs Bett rüber, krümmte sich und rief immer wieder: Aua, aua, aua, das tut so weh, ich halt das nicht aus. Alle anderen Leute waren unterwegs auf irgendwelchen Weihnachtsfeiern. Ich sagte zu ihr, ich rufe jetzt einen Krankenwagen und dann fahr ich mit ihr ins nächste Krankenhaus. Das ist nicht mehr normal. Sie nickte nur, krümmte sich nach wie vor vor Schmerzen.
„Ist Ihre Freundin ansprechbar?“ – „Ja, Sie hat aber sehr starke Schmerzen, liegt auf dem Bett und krümmt sich, weiß nicht wie sie liegen soll.“ – „Seit wann geht das so?“ – „Seit einigen Minuten ist es so heftig, Schmerzen hat sie seit gestern abend.“ – „Hat sich das heute schon ein Arzt angesehen?“ – „Ja, die Hausärztin, die vermutet einen Harnwegsinfekt. Aber da waren die Schmerzen noch nicht so heftig.“ – „Hat sie Schmerzmedikamente mitbekommen?“ – „Ja, auch schon genommen. Aber das bringt irgendwie nichts.“ – „Und können Sie den Hausarzt nicht erreichen?“ – „Um 20 Uhr ist da keine Sprechzeit mehr!“ – „Dann notieren Sie sich bitte mal die Nummer vom Kassenärztlichen Notdienst…“ – „Ich will jetzt hier keine Nummern, meine Freundin gehört ins Krankenhaus und
das so schnell wie möglich. Sie krümmt sich vor Schmerzen.“ – „Ich könnte Ihnen einen Liegend-Transport anbieten, allerdings erst in etwa zweieinhalb bis drei Stunden. Es ist wegen der Glätte sehr viel zu tun. Wenn es nicht unbedingt im Liegen sein muss, versuchen Sie sonst vielleicht ein Taxi? Das könnte echt schneller gehen.“ Wahnsinn. Wo bin ich hier eigentlich?! Ich legte auf.
„Komm, Cathleen, ich fahr dich ins Krankenhaus. Die haben keinen Wagen frei.“ Ich googelte schnell das nächst gelegene Krankenhaus mit Not-Aufnahme und Urologie, dann zog ich ihr eine Fleece-Jacke über, setzte sie hinten in mein Auto, Spuck-Eimer in die Hand, denn übel war ihr auch noch, Rollstuhl in den Kofferraum, meinen Rollstuhl auf den Beifahrersitz verladen, Abfahrt. Ihr war irgendwie alles egal. Ich fuhr zum nächsten Krankenhaus, zur Notaufnahme. Da die Behindertenparkplätze nicht geräumt waren, parkte ich direkt auf dem Vorplatz. Sofort kam ein Wachmann raus. „Dort können Sie nicht stehen bleiben.“ – „Helfen Sie mir mal bitte bei meiner Freundin? Die hat starke Schmerzen und sitzt auch im Rollstuhl.“ – „Oh ja, Moment, ich hole jemanden her. Warten Sie.“
Ich lud meinen Rolli aus, ich lud Cathleens Rolli aus, half ihr beim Umsetzen, dann schob ich sie vor mir her, rein ins Gebäude. Vom Sicherheitstypen keine Spur, von Hilfe auch nicht. Ein anderer Typ in Krawatte saß hinter einem Tresen und zeigte uns den Weg. Durch drei Klapptüren, dann waren wir endlich da. Cathleen erzählte, was los war. Dass sie starke Schmerzen habe. „Können Sie bitte einmal Urin abgeben? Hier in den Becher?“ Na klar. Ich rollte mit Cathleen auf das Behinderten-WC, in einem anderen Flur. Cathleen heulte nur noch, sagte alle 20 Sekunden: „Das tut so weh.“ Mit größter Mühe bekamen wir den Becher halb voll. Als wir wieder an dem Tresen waren, hieß es, wir sollen im Raum 4 warten. „Legen Sie sich bitte auf die Liege. Geht das? Die diensthabende Ärztin kommt gleich.“
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie dann auch. Sie wollte von Cathleen hören, was los sei. Was sie bisher genommen habe. Im Urin seien keine Entzündungszeichen, aber Blut. Ob sie ihre Tage habe. Das Antibiotikum wirke erst nach einigen Stunden, so ein Harnwegs- oder gar Nierenbeckeninfekt sei quälend, man könne Buscopan nehmen. Das Problem sei, dass kein Urologe mehr im Haus sei. Die diensthabende Urologin müsste von zu Hause kommen. Sie würde sie jetzt mal anrufen.
Nach 10 Minuten kam sie zurück. „Also, wir können Sie stationär aufnehmen, dann bekommen Sie auf der Station noch weitere Schmerzmittel. Morgen früh würde sich ein Urologe dann das alles mal genauer anschauen.“ – „Morgen früh?“ – „Ja, es hat ja heute bereits ein Arzt draufgeschaut und eine sichere Diagnose gestellt. Man muss wirklich abwarten. Die Urologin kommt nicht. Ich kann Ihnen nicht mehr anbieten, als sie aufzunehmen. Es steht Ihnen aber frei, sich morgen beim Chefarzt darüber zu beschweren.“
Sie ging wieder raus. Cathleen schaute mich heulend an. Was sollte ich nun bloß mit ihr machen? Das waren ja nicht nur die Schmerzen, sondern auch das dumme Gefühl, dass sich hier etwas entwickelt, was vielleicht morgen früh bereits eine große Katastrophe sein könnte. Alle verließen sich auf die Hausärztin, aber so wie Cathleen das beschrieb, habe sie nicht mal eine Urinkontrolle gemacht. Will ich mich auf so eine Diagnose vom bloßen Anschauen und Beschreiben verlassen?
„Ich bring dich in die Uniklinik“, bot ich Cathleen an. Sie nickte. Setzte sich wieder in den Stuhl. Die Ärztin kam wieder rein. „Sollen wir Sie jetzt aufnehmen?“ – Cathleen, völlig verzweifelt, schrie sie schluchzend und völlig aufgelöst an: „Ich bin hier hergekommen, weil ich Hilfe brauche. Sie kotzen mich an!“ – Die Ärztin blieb ruhig: „Ich kann es auch nicht verstehen, dass die diensthabende Urologin nicht kommt. Aber ich kann es auch nicht ändern. Wie gesagt, Sie können sich morgen beim Chefarzt darüber beschweren.“
Als ich sie wieder im Auto hatte und vom Gelände fuhr, hatte ich eine andere Idee. Ich weiß, niemand wünscht sich, nach Feierabend oder so spät in der Nacht (inzwischen war es kurz nach 22 Uhr) gestört zu werden. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie früh ins Bett geht, und wenn, dann soll sie gefälligst ihr Handy ausmachen: Meine Hausärztin hatte mir nach dem ersten Besuch ihre Karte mit Handynummer gegeben. Dort könne ich im Notfall anrufen. War dies ein Notfall?
Ich habe eine Freisprecheinrichtung im Auto. Nach dem fünften Klingeln ging jemand ran. Es lief ein Fernseher im Hintergrund. Sie kling nicht verschlafen. Ich meldete mich, erzählte, dass ich meine Freundin im Auto hätte, die sich vor Schmerzen krümme. Ob ich vorbeikommen dürfe. „Oh, wenn das so heftig ist, fahren Sie vielleicht besser direkt ins nächste Krankenhaus?“ – „Da waren wir gerade, die diensthabende Urologin hatte aber keinen Bock, zu kommen. Sie meinte, das reiche noch morgen früh, schließlich habe ihre Hausärztin heute schonmal draufgeschaut. Sie hat aber jetzt die Schmerzen und nicht morgen früh. Darf ich mit ihr zu Ihnen kommen? Bitte!“ – „Ich will mir das gerne ansehen, aber wenn das wirklich ein urologischer Notfall ist, kann ich sie mitunter auch nur in die Klinik schicken. Aber dann ruf ich da vorher an. Wann sind Sie hier?“ – „In 20 Minuten.“
Zwischenzeitlich ging es mal wieder mit Cathleens Schmerzen, kurz bevor wir dort waren, wurde es wieder richtig heftig. Sie war völlig fertig, entschuldigte sich schon bei mir, dass sie so unausstehlich und nörgelig sei und andauernd nur „Aua, ah“ und ähnliches vor sich hin stöhnte. Ich fuhr auf die Auffahrt, noch während ich meinen Stuhl auslud, kam die Ärztin aus dem Haus. Machte hinten die Tür auf. Sah Cathleen wie ein Schluck Wasser blass und mit Schweißperlen auf der Stirn und Kotz-Eimer in der Hand halb auf ihrem Sitz liegen. „Oh, Mäuschen, was ist denn hier los? Du hast starke Schmerzen, ich seh das schon. Wir fahren dich jetzt rein, dann kriegst du erstmal was anständiges gegen die Schmerzen, okay? Es ist gleich vorbei. Noch einen Moment tapfer sein, bitte.“ Ich schob Cathleens Rollstuhl zur Autotür, die Ärztin hob Cathleen halb aus dem Auto raus.
In der Praxis war alles dunkel, nur ein Untersuchungsraum war hell erleuchtet. PC war schon an, Ultraschallgerät auch. „Leg dich mal bitte da drüben auf die Liege. Und dann mach dich bitte frei, auch die Unterhose. BH kannst du anlassen. Darf Jule mit rein?“ – Cathleen nickte. – „Wurde denn heute schon ein Ultraschall gemacht?“ – Cathleen schüttelte den Kopf. – „Blut abgenommen?“ – Cathleen schüttelte weiter den Kopf. – „Kein Blut abgenommen?!“ – Cathleen schüttelte immernoch den Kopf. – „Urin untersucht?“ – Cahtleen schüttelte weiter den Kopf. – „Aber du warst beim Arzt?“ – Cathleen nickte. – „Das ist ja alles unglaublich. Hattest du Fieber? Hast du gekotzt?“ – Cathleen schüttelte immernoch den Kopf. – „Ich lege dir jetzt erstmal einen Zugang, damit ich dir Schmerzmittel geben kann. Irgendwelche Allergien oder Unverträglichkeiten bekannt?“ – „Penicillin“, antwortete Cathleen. „Das tut so weh.“ – „Ja, Mäuschen, ist gleich vorbei. Es wird gleich besser, ich versprech es dir.“
Eine Minute später hatte die Ärztin etliche Röhrchen Blut abgenommen und hatte Cathleen am Tropf hängen. „Du kriegst jetzt von mir Buscopan und Novalgin in die Vene, dann sind die Schmerzen in zwei Minuten weg. Zeig mir mal bitte, wo die Schmerzen genau sind.“ – Cathleen zeigte auf die linke Niere, auf die Blase, irgendwo dort und überall. Die Ärztin klopfte ihr von hinten gegen die Nieren. Das tat nicht weh, meinte Cathleen. Auch die Wirbelsäule nicht. Dann rief sie irgendwen an. „Kannst du mal bitte runterkommen?“
„Ich möchte ein Ultraschall von den Nieren und der Blase machen“, sagte sie. „Und die Windel mach ich mal ab, ähm, dein Urin ist blutig, hast du schon gesehen?“ – Cathleen schüttelte den Kopf. Die Ärztin zeigte ihr die Windel und schmiss sie anschließend in den Mülleimer. „Allerdings riecht es nicht nach Infekt“, meinte sie. Cathleen lag da wie ein Häufchen Elend. „Das ist mir peinlich“, schluchzte sie. So kenn ich sie ja gar nicht. Die Ärztin strich ihr über die Stirn. „Das muss es nicht. Ist alles okay. Es wird gleich besser. Stuhlgang war normal?“ – Cathleen nickte.
Die Ärztin rödelte einige Zeit in etlichen Schubladen herum, brachte irgendwelche steril verpackten Sachen mit. Dann fragte sie: „Wirkt das Schmerzmittel schon?“ – Cathleen strahlte sie an und nickte: „Ich könnte Sie knuddeln.“ – Die Ärztin grinste. Dann entnahm sie mit einem Katheter über die Harnröhre den Urin aus der Blase. „Wissen Sie, wenn Ihr Hausarzt Ihnen kein Antibiotikum gegeben hätte, hätte man jetzt eine Kultur anlegen können. Dann wüsste man nach einigen Tagen, ob das Antibiotikum das richtige ist oder ob man es wechseln muss. Jetzt geht es nicht mehr. Jetzt kann man nur hoffen. Ich muss das mal so klar sagen: Bei urologischen Risikopatienten, und dazu gehören eindeutig Querschnittgelähmte, ist sowas unverantwortlich. Bestehen Sie nächstes Mal darauf, dass eine Kultur angelegt wird, bevor Sie die erste Pille schlucken! Er kann ja sofort nach der Entnahme das wahrscheinlichste aufschreiben und damit erstmal anfangen.“
Es klopfte an der Tür. Ein Mädchen, schätzungsweise 16, in Schlafklamotten, barfuß, kam rein. Sie saß in einem langsam zu klein werdenden Kinderrollstuhl mit bunten Pferdemotiven auf den Radblenden. Sie sagte schüchtern Hallo. Die Ärztin drückte ihr vier der Röhrchen und einen Zettel in die Hand. „Kannst du mir das bitte bestimmen? Bist mir eine große Hilfe.“ Cathleen und ich schauten uns an und glaubten, unseren Augen nicht zu trauen. Das Mädel bekam ein Küßchen auf die Stirn und rollte ohne ein Wort zu sagen mit den Röhrchen aus dem Raum. Die Ärztin hatte schon die Sonde vom Ultraschallgerät in der Hand. Sie untersuchte und schaute, dann meinte sie: „Im Ultraschall kann ich nicht viel sehen, außer dass die linke Niere gestaut ist. Das ist nicht schön. Sind Sie eigentlich schwanger?“
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Was hat sie da gesehen? Cathleen antwortete cool: „Nicht dass ich wüsste. Ich hatte nicht mal Sex.“ – „Okay, ich würde nämlich gerne röntgen. Wurden Sie schonmal geröntgt? Haben Sie einen Röntgenpass?“ – Hatte Cathleen. Sie durfte auf der Liege liegen bleiben. Die Ärztin schob sie durch die Praxis in einen anderen Raum, wo es dunkel war. Ich fuhr hinterher. Unterwegs kam ich an einer anderen offenen Tür vorbei. In dem hell erleuchteten Raum war das Mädel von eben intensiv beschäftigt. Sie hatte ihre Haare zusammengebunden, hatte eine große Laborbrille, Papiermundschutz, eine große Schürze, die über den Rollstuhl reichte, und Handschuhe an. Vielleicht war sie doch schon älter. Vielleicht machte sie bei ihrer Mutter eine Ausbildung? Oder sie interessierte sich dafür oder war neugierig? Es sah jedenfalls sehr professionell aus.
Ich sollte in den Raum, in dem geröntgt werden sollte, nicht mit rein. Ich wartete draußen auf dem Flur. Ich hätte dem Mädel im Rollstuhl zwar gerne zugeschaut, wollte da aber auch nicht nerven. Also schaute ich mir die Bilder an den Wänden an. Hinter der Schiebetür mit der Aufschrift: „Kein Zutritt, Röntgen“ hörte man nur die Stimme der Ärztin. „Tief einatmen. Ausatmen. Nicht mehr atmen.“ Pieep. „Und normal weiter atmen.“
Einen Moment später wurde sie wieder rausgeschoben. Im Behandlungszimmer zurück, schaute sich die Ärztin die Bilder auf dem PC-Monitor an. Röntgengerät mit Netzwerkanschluss? Cool! Bevor irgendwer irgendwas sagen konnte, sagte Cathleen: „Ich glaub, ich muss pinkeln. Ich glaub, es ist dringend.“ Die Ärztin rollte auf ihrem Bürostuhl zurück, öffnete eine große Schublade. „Wollen Sie sich kathetern?“ Cathleen versuchte sich aufgeregt mit den Händen abzustützen. „Oh nein, Scheiße!“ – Die Ärztin winkte gleich ab: „Ist Zellstoff drunter, ist nicht schlimm.“ – Cathleen war das sichtlich unangenehm, versuchte, eine Hand in den Schritt zu pressen. Die Ärztin sagte nur: „Immer ruhig bleiben, kein Grund zur Panik.“ Cathleen bekam einen knallroten Kopf und fragte nur schüchtern: „Wo kommt denn das alles her?“ – „Aus der Niere“, sagte die Ärztin, hatte dabei ein Grinsen im Gesicht, als würde sie sich über den Schweinkram auf ihrer Liege freuen.
Sie stellte die Infusion ab. Nahm das Bettlaken, das eben noch über Cathleen zum Zudecken lag, komplett weg und warf es in einen Wäschesack. „Schön liegen bleiben“, sagte sie. Dann hob sie Cathleens Beine an und schaute sich die Schweinerei auf der Liege genauestens an. Als würde sie etwas suchen. Dann, plötzlich, sagte sie: „Halten Sie mal Ihre Beine so fest.“ Ging zu einer Schublade, kam mit einer Pinzette wieder. Griff mit der Pinzette in die inzwischen eingezogene Pfütze, nahm einen kleinen Becher hinzu. Zeigte Cathleen die Pinzette: „Da ist der Übeltäter. Der verdammte Schweinehund. Als Arzt sagt man dazu ‚Spontan-Abgang‘.“ Ich verstand nur Bahnhof. Die Ärztin hatte in der Pinzette etwas, das sah aus wie ein Reiskorn, nur höchstens ein Viertel so groß.
„Was ist das?“ fragte ich. „Das ist ein Nierenstein! Ein Harnleiterstein, um genauer zu sein. Der wird jetzt verhaftet, eingesperrt und ins Labor geschickt. Dort wird er auf seine Zusammensetzung untersucht. Und dann müssen wir mal schauen, ob wir an Ihren Trink-, Ess- oder Lebensgewohnheiten etwas ändern müssen, oder ob Sie Medikamente nehmen müssen, damit sich solche Steine künftig vermeiden. Der wandert ganz langsam durch den Harnleiter und dabei kommt es zu einer so genannten Nierenkolik. Kolikschmerzen gehören übrigens zu den stärksten Schmerzen überhaupt.“
Ich schluckte. Cathleen sagte: „Na das hab ich gemerkt. Und wieso ist der jetzt plötzlich rausgekommen?“ – „Nierendruck, leere Blase, krampflösende Medikamente, keine Schmerzen mehr, normales Atmen, keine Schonhaltung, vielleicht hatte er Langeweile oder Licht am Ende des Tunnels gesehen oder keinen Bock mehr. Irgendwas davon. Kann man nicht sagen. Die meisten kommen von alleine. Und das ist auch besser so. Ich zieh Ihnen jetzt die Kanüle, dann kriegen Sie was zum Saubermachen, ich schreibe einen kurzen Brief für Ihren Hausarzt und in der Zwischenzeit dürfen Sie sich anziehen und nach Hause ins Bett. Nach der Strapaze schlafen Sie bestimmt gut.“
„Darf ich Sie denn jetzt mal knuddeln? Ich bin Ihnen so dankbar“, fragte Cathleen. Die Ärztin ging zu ihr hin. „Na komm her. Oha, zerquetsch mich nicht.“ – In dem Moment klopfte es und das Mädel kam wieder rein. „Hab hier die Laborwerte. Ich hoffe, sie sind alle richtig. Was ist denn das hier für eine Party?“ – Cathleen antwortete vergnügt: „Eine Spontan-Abgangs-Party. Der Schweinehund wurde festgenommen und verhaftet. Er wollte noch fliehen, aber er hatte keine Chance.“ – „Ah ja“, sagte das Mädel, verstand aber wohl auch nur Bahnhof.
„Sag mir bitte mal den Kreatinin-Wert“, bat die Mutter ihre Tochter. „Ich weiß nicht, ob das so richtig ist, aber ich hab 2.1 raus“, antwortete sie. Die Mutter fragte: „Und das heißt was?“ – „Ja viel zu hoch eigentlich. Aber ich wüsste nicht, was ich falsch gemacht haben könnte.“ – „Nee, das kann schon sein. Wann hat jemand einen hohen Kreatininwert?“ – „Nierenversagen?“ – „Ja, oder Nierenstau. Meistens. Kann noch andere Ursachen haben, aber meistens Nierenstau. Nein, der Wert kann richtig sein. Ich habe hier ja nochmal vier Röhrchen für das Labor morgen, dann können wir das nochmal vergleichen, aber die hätte ich ja heute abend nicht mehr bekommen. Das wird schon richtig sein. Und das wäre auch ein Wert, wo ich Sie ins Krankenhaus geschickt hätte, wenn der Übeltäter nicht spontan rausgekommen wäre. Da hätte man was tun müssen, da hätte man nicht mehr abwarten dürfen.“
„Was hätte man da getan?“ – „Wenn die so weit unten liegen wie bei Ihnen, der saß im Röntgenbild noch unmittelbar vor der Blase, dann kann man die meistens nicht mehr zertrümmern. Das wird dann echt haarig und das bedeutet auf jeden Fall einen Eingriff unter Vollnarkose. Nicht witzig. So, ich schreibe jetzt noch kurz den Brief, und dann schmeiß ich euch raus.“
„Wenn ich mich jetzt entscheide, nicht mehr zu meinem Hausarzt zu gehen, sondern auch hierher zu kommen, wäre das auch möglich?“ – „Sie dürfen Ihren Hausarzt frei wählen. Wenn Sie lieber zu mir kommen wollen,
freue ich mich natürlich. Das müssen Sie aber nicht heute abend entscheiden, das können Sie sich ja in Ruhe überlegen.“ – „Ich glaub, ich möchte gar nicht mehr überlegen.“ – Das Mädel mischte sich ein: „Meine Mama ist sowieso die Beste.“ – Ich musste grinsen. Die Mama funkelte ihre Tochter an, fand den Kommentar wohl nicht so passend.
„Ich weiß, es ist spät und so, aber dürfte ich Sie noch was fragen? So als kleinen Deal: Eine Frage anstelle des Briefes? Das ist wirklich was sehr wichtiges und sehr … naja … etwas intimes.“ – „Sollen die beiden mal vor die Tür?“ – „Bist du auch Spifi?“ fragte Cathleen die Tochter. Die nickte. „Dann kennst du das ja. Nö, können drinnen bleiben. Es geht darum, dass ich zur Zeit keine Blasenmedikamente bekomme, weil mein Hausarzt immernoch auf einen Brief von einem Urologen wartet. Silvester ein Vierteljahr. Ich vertrage Oxybutynin nicht als Tablette, wohl aber Darifenacin. Das darf ich aber nicht kriegen, weil es nicht zugelassen ist, also soll ich mir Oxybutynin in die Blase spritzen. Das will meine Hausärztin aber nicht aufschreiben, bevor sie nicht vom Urologen was schriftliches hat. Ich bin am verzweifeln, weil ich das im Moment überhaupt nicht vernünftig unter Kontrolle kriege.“ Ich hatte darüber auch schonmal hier geschrieben.
„Wenn Sie sich entscheiden, mich als Hausärztin zu nehmen, schreib ich Ihnen auch das Darifenacin auf“, kam die spontane Antwort. „Mal eben so einmalig ginge das allerdings nicht, weil das begründet werden muss.“ Cathleen guckte verwundert: „Nee nee, ich wollte schon bei Ihnen bleiben. Aber angeblich steht das im Arzneimittelverzeichnis der Kassen nicht drin und deshalb darf das nicht übernommen werden“, widersprach sie. Die Ärztin antwortete: „Das ist dummes Gelaber. Die Liste enthält die Medikamente der ersten Wahl. Und die der zweiten Wahl gibt es mit ausführlicher Begründung, warum die erste Wahl nicht ausreicht oder nicht zweckmäßig ist. Darifenacin ist als zweite Wahl bei allen Kassen zugelassen. Ihr Oxybutynin in Spritzenform ist hingegen überhaupt nicht zugelassen. Und trotzdem müsste die Kasse es zahlen, wenn es die einzig sinnvolle Lösung wäre. Kommen Sie denn damit zurecht, sich das Oxybutynin in die Blase zu spritzen?“
Cathleen antwortete: „Naja, kathetern muss ich sowieso. Und ob ich den Katheter sobald nichts mehr kommt rausziehe oder ob ich da noch kurz auf das äußere Ende eine Spritzenampulle draufstecke und deren Inhalt durch den Katheter in die Blase drücke, das ist nun wirklich nicht schlimm.“ – Die Tochter mischte sich ein: „Ich krieg die auch.“ – Die Ärztin sagte: „So wie bei Ihnen, Jule, ist das relativ schnuppe. Wenn Sie das vertragen und mit ihrem Kopf alles okay ist, können Sie das auch oben einwerfen. Nur bei Leuten, die schon was mit dem Kopf haben, wie bei Spina bifida mit Hydrocephalus, muss man kein Medikament wählen, was im Kopf Nebenwirkungen macht. Wenn ich meiner Tochter das oral gebe, lebt sie in einer anderen Welt. Und aus demselben Grund würde ich auch ungern das Darifenacin als Tablette geben, weil es ebenso auf den Kopf geht. Geschmeidiger, nicht in der Bandbreite wie das Oxybutynin, aber alle diese Medikamente vermindern als Nebenwirkung einen bestimmten Stoff im Gehirn, den man eigentlich besser nicht vermindert, weil man noch lange nicht erforscht hat, was mit diesem Stoff los ist. Man weiß nur, er spielt bei Alzheimer eine große Rolle. Und vor allem sind diese Medikamente bei angeborener Querschnittlähmung noch nicht langzeiterprobt. Niemand weiß, ob die dauerhafte Reduzierung dieses Stoffes im Gehirn bei Menschen mit eben dieser angeborenen Störung im Alter früher zu Alzheimer führt. Ich behaupte einfach mal: Ja.
Aus dem Grund würde ich, immer wenn es möglich ist, verhindern, dass diese Stoffe in den Blutkreislauf kommen. Sie passieren nämlich auch die Schranke zum Gehirn und wirken dort. Ganz verhindern kann man es nicht, wenn man sie anwendet. Aber es ist ein Unterschied, ob ich sie über den Verdauungstrakt ins Blut gelangen lasse, um sie dann in der Blase wirken zu lassen, oder ob ich sie gleich in die Blase gebe, damit sie dort wirken und nur ganz minimal, in Spuren, in den Blutkreislauf gehen. Genauso würde ich das gegenüber Ihrer Kasse begründen. Und dann werden die das auch nicht ablehnen. Wenn Sie mir aber sagen, Sie möchten lieber Darifenacin, weil Ihnen das andere zu rödelig ist, kriegen Sie auch das von mir.“
Cathleen war sich sofort sicher: „Nein, dann möchte ich das mit den Ampullen machen.“ – „Dann kriegen Sie jetzt von mir ein Rezept und ich faxe dazu morgen was an Ihre Krankenkasse.“ So einfach kann das gehen.
Ich konnte mir unterdessen nicht verkneifen, die Tochter zu fragen, ob sie eigentlich Rollstuhlsport mache. Sie fahre viel mit dem Handbike, meinte sie. Da der Beitrag schon sehr lang ist, fasse ich es kurz: Sie möchte im nächsten Jahr mal bei unserem Training mitmachen. Erstmal nur schwimmen, später vielleicht mehr, und sie klang sehr interessiert..