Eigentlich finde ich meinen jugendlichen Wahnsinn gar nicht so besonders. Was aber daran zu liegen scheint, dass ich von ihm umzingelt bin. Das finden zumindest meine Kolleginnen und Kollegen, als ich ihnen davon erzählt habe, dass ich mit Maria in einem öffentlichen Restaurant Essen gehen will. Zugegeben, ich habe mir Cathleen zur Unterstützung geholt, denn Maria hat weder einen E-Rollstuhl noch kann sie alleine fahren. Innerhalb der Einrichtung, wo alles ebenerdig ist, klappt es mit
durchschnittlich 0,3 km/h, außerhalb der Einrichtung reicht für sie eine nicht ganz korrekt verlegte Gehwegplatte, um hängen zu bleiben.
Und ebenfalls zugegeben: Ich war gespannt auf die Konfrontation von normalen Menschen mit uns unnormalen Behinderten, insbesondere mit der völlig unnormalen Maria, und auf den Konflikt, vor dem der Kellner steht, wenn andere Gäste sich von uns gestört fühlen. Wird nicht passieren? Pessimismus? Abwarten, weiterlesen!
Maria sagte gestern, dass sie seit mindestens fünf Jahren in keinem Restaurant mehr war, auf meine unüberlegte Frage, ob sie ein portugiesisches Restaurant kennt. „Ändern wir das?“ fragte ich sie. Sie nickte und schaute mich ohne ein Wort mit großen Augen an. „Wenn du dich
traust, sofort“, sagte sie nach einer langen Denkpause. Stinkesocke und
nicht trauen? Hust…
Die schwarze Hose, schwarze Schuhe und das helle Oberteil standen ihr
wirklich sehr gut. Sie sah richtig edel aus. Ich bearbeitete ihre Mähne, dann konnten wir los. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln waren wir zwar sehr mühsam unterwegs, aber immerhin konnten wir in aller Ruhe quatschen und uns die Gegend ansehen. Warum fährt eigentlich niemand mit
Maria los, einfach mal so in der Gegend rum? „Der Hafen ist noch genauso wie beim letzten Mal“, sagte sie. Ich habe nicht gefragt, wie lange das her war. Ich schätze: Jahre.
Zum Restaurant gab es zwei Stufen, aber zwei Mitarbeiter halfen uns hinein. Wir bekamen einen großen runden Tisch gleich am Fenster und konnten die Schiffe sehen. Marias Augen glänzten noch mehr als sie es sonst sowieso schon taten. Es war einiges los und plötzlich kam ein kleiner Junge zu uns an den Tisch, der sich meinen Rollstuhl anschaute, mich anschaute, dann wieder weglief und seine Eltern irgendwas fragte. Im Stimmengewirr konnte ich eindeutig das Wort „Rollstuhl“ heraushören, aber mehr nicht. Plötzlich stand die Mutter mit dem Kind vor unserem Tisch und fragte uns, warum wir ihren Sohn angesprochen hätten. Häh? „Haben wir nicht“, erwiderte ich. – „Nee, ist klar, dann lügt mein Sohn wohl oder was? Schönen Tag noch!“ Auweia. Haschmich.
Unser Essen kam und wir bekamen es hin, dass abwechselnd Cathleen und
ich Maria die nächste Gabel in den Mund steckten. Oder besser das Essen. Das ging völlig unauffällig, Marie aß absolut sauber, da kleckerte nix, da schmatzte niemand, sie sabberte nicht oder spuckte die
Hälfte wieder aus oder ähnliche denkbare Begleitumstände – nix. Der einzige Unterschied war, dass sie sich nicht selbst das Essen zum Mund führte, sondern dass das jemand anderes für sie tat und dass das Mund öffnen und wieder schließen etwas länger dauerte und das Kauen und Schlucken zwischendurch auch. Aber wir hatten ja Zeit.
Plötzlich stand ein Mann an unserem Tisch, schätzungsweise Mitte 60, der uns fragte, ob diese Spielchen seien müssten. Schlagartig gingen mein Blutdruck und mein Puls um jeweils 100 hoch. Seine Frau und er hätten Hochzeitstag und er wollte seine Frau nett ausführen und gepflegt
dinieren (!) und er komme sich derzeit vor wie auf einem Kindergeburtstag beim Stipp-Stop-Essen.
Ich erwiderte, dass diese Spielchen keine Spielchen seien, sondern wir, genauso wie er, ein nettes Essen zu uns nehmen. Im übrigen wünschen
wir ihm und seiner Frau alles Gute. Auf die Frage, ob es ein runder Hochzeitstag sei, sagte er, dass er uns ansehe, dass wir irgendein Projekt machen würden, bei dem wir uns wie Behinderte benehmen müssten und ausprobieren, wie Behinderte im Alltag zurecht kämen. Wir müssten nicht im Rollstuhl sitzen und das Mädchen in unserer Mitte müsste nicht gefüttert werden. Er fände diese Projekte gut, weil sie Schülerinnen und
Schülern vermitteln würden, dass es ein Leben jenseits der Normalität (!) gebe, aber so etwas sollten wir doch bitte bei McDonalds machen und nicht in einem eher feineren Restaurant. Cathleen sagte: „Jetzt ist es gut, ja?“
„Gerd, lass es. Ich möchte einen schönen Tag mit dir verbringen“, rief ihn seine Renate an den Tisch zurück. Renate hatte die Hosen an, sie befahl, er gehorchte. Als der Kellner das nächste Mal am Tisch vorbei ging, bekam dieser die Theorie vom Schulprojekt auch noch einmal serviert. Er kam zu uns an den Tisch und fragte: „Jetzt mal ernsthaft: Macht ihr hier ein Projekt, so wie der Herr behauptet?“
Maria antwortete auf Portugiesisch. Ebenso langsam und verwaschen, aber scheinbar dennoch gut verständlich und mit den richtigen Worten. Sie wollte mir nicht sagen, was sie gesagt hat, es war recht ausführlich
und am Ende führte es dazu, dass der Kellner zu Gerd und Renate sagte: „Die Damen sind genauso Gäste wie Sie. Wenn Sie nicht neben den Damen sitzen wollen, zeige ich Ihnen gerne einen anderen Tisch.“ – Woraufhin Renate aufsprang, alles stehen und liegen ließ und Gerd mit den Worten: „Sie erwarten doch wohl nicht, dass wir für das halbe Essen zahlen?“ hinter ihr herstolperte.
Als wir mit dem Essen fertig waren, kam ein Mann bei uns an den Tisch, der ein wenig aussah wie Heidis Almöhi. Er sagte: „Ich hatte schon die Faust in der Tasche geballt. Die beiden konnten froh sein, dass man sich hier gut benehmen muss, sonst wäre mir richtig der Kragen geplatzt. Lassen Sie sich von solchen Leuten bloß nicht einschüchtern.“ Dann ging er raus.
Als wir nach der Rechnung verlangten, bekamen wir von der Bedienung etwas grausames Hochprozentiges eingeschenkt. Mit Maria redete er wieder
portugiesisch. Als er weg war, übersetzte sie: „Nicht jeder Gast ist mein Freund. Aber jeder Freund ist mein Gast. Euer Essen geht aufs Haus.
Bitte nehmt die Entschuldigung an und kommt bald wieder.“
„Wie? Der hat uns eingeladen? Dem gehen unseretwegen jetzt fünf Essen
durch die Lappen? Die von Renate und Gerd und unsere drei auch noch? Das muss doch nun wirklich nicht sein.“ Auch wenn ich anfangs genau auf diese Konfrontation gespannt war, so wollte ich nicht, dass sie auf dem Rücken des Restaurants ausgetragen wird. Aber Maria sagte: „Gebt ihm zum
Abschied die Hand und bedankt euch. Wenn ihr jetzt diskutiert, macht ihr euch unbeliebt. Nehmt das einfach so an.“ Machten wir, sie sagte ihm
noch irgendwas nettes in ihrer Sprache und dann fuhren wir zurück in die Einrichtung. Wo Maria natürlich jedem diese Geschichte erzählen musste…