Ich weiß nicht, warum ich zu Fuß unterwegs bin. Mir fällt auch erst
an der Ampel ein, dass ich gar keinen Rollstuhl dabei habe. Ich stehe an einer Fußgängerampel am Schulterblatt (so heißt eine Straße im Bezirk
Sternschanze), will auf die andere Seite, zur Sparkasse. Weit und breit
ist kein Auto, aber die Stinkesocke ist ja brav und wartet auf grün. Auch wenn sie gerade von der Polizei verfolgt wird und die beiden Uniformierten immer dichter kommen. Ein seltsames Katz-und-Maus-Spiel.
Dann endlich wird die Ampel grün. Drüben, am Geldautomaten, klicken die Handschellen. Die Polizisten lassen den Beweis, dass ich gerade mit meiner Karte Geld abhebe, nicht gelten, sondern glauben trotzdem, dass ich kurz zuvor eine Bank überfallen hatte. Ich muss mit. Zum Glück sind wir drei ganz alleine auf dem Schulterblatt, so dass niemand diese peinliche Situation miterlebt: Stinkesocke wird zu Fuß von zwei uniformierten Bullen wie eine Sau durch die Schanze getrieben.
Ich hoffte, niemand würde merken, dass ich in Wirklichkeit einen Rollstuhl brauche. Wie sieht denn das aus, wenn eine junge Frau mit Behinderung sich einfach mal so erlaubt, ohne ihren Rollstuhl von zu Hause loszugehen! Unseriös, oder?! Und Unseriösität ist das, was ich im Moment am wenigsten gebrauchen konnte. Denn irgendwie musste ich die Polizei gerade davon überzeugen, dass ich nicht die bin, die sie suchen.
In Wirklichkeit ging es gar nicht um einen Bankraub. Die beiden Uniformierten brachten mich zu einem Schrebergarten. Ich habe keine Ahnung, wieso wir plötzlich dort waren, aber das war eindeutig der Schrebergarten meiner Großeltern. Die waren aber nicht da, sondern eine Kriminalbeamtin und ein Kriminalbeamter, der sich mit mir unterhalten wollte. Die Holzhütte, die sonst hinteren Drittel des Gartens stand, stand jetzt direkt am Eingang hinter der Hecke. Sie war abgebrannt und plötzlich wusste ich wieder: Ich hatte sie angesteckt.
Ich weiß nicht warum. Aber ich wusste, dass ich es gewesen bin. Wie, ob mit Benzin oder mit irgendwelchen festen, leicht brennbaren Stoffen, davon habe ich auch keine Ahnung. Auch nicht, wann es war. Ich wusste nur: Ich habe das Ding angezündet. Ob ich besoffen war, was mich geritten hat – ich weiß es nicht. Diese Hütte sah alles andere als verbrannt aus, ich traute mich auch nicht zu fragen, warum das so war. Vielleicht würde ich damit Täterwissen preisgeben. Lieber schweigen. Und
überhaupt: Die Sache mit dem fehlenden Rollstuhl war ja auch noch. Höchstverdächtig.
Der Kriminalbeamte ahnte auch etwas. Oder vielleicht auch nicht. Ich konnte ihn nicht einschätzen. War er ein bißchen dumm? Oder stellte er sich dumm, um mich aus der Reserve zu locken? Ich war die Täterin. Ich wusste das. Er auch? Warum hatten die mich eigentlich festgenommen? Sollte ich wirklich nur Hinweise geben? Fragen über Fragen, die ich lieber gar nicht erst stelle.
In der Hütte war ein Mensch verbrannt. Ein Obdachloser hatte dort gepennt. Scheiße. Mir wurde klar, ich hatte einen Menschen auf dem Gewissen. Aber die Chancen, dass dieser Kriminalbeamte das nicht merkt, standen gut. Oder tat er doch nur so? Und was, wenn sie keinen Täter finden würden? Sie würden doch Jahre lang ermitteln und ich würde immer und immer mit der Angst leben müssen, gleich für 15 bis 30 Jahre ins Gefängnis zu müssen. Mir wurde kalt.
Ich versuchte, eine Miene zu machen, die jemand macht, der gerade erfahren hat, dass hier ein Mensch getötet wurde. Aber wieviel Anteil nimmt jemand, der mit der ganzen Sache nichts zu tun haben will? Schwierige Aufgabe.
„Du bist so eine Sau“, sagte die Kriminalbeamtin. „Hmmmm, lecker. Das
wollte ich schon immer mal haben.“ Sie kiecherte. War die nicht ganz frisch? Oder war das Taktik? Wie sollte ich sie anschauen? Irritiert? Selbstsicher?
„Jule!“, rief sie mich. Und lachte. Die war wirklich nicht ganz bei Trost. Sie stand plötzlich neben mir und schob mich ein Stückchen weiter. Ich stand in einem Beet, in dem Leute im weißen Papieranzug (wo kamen die denn plötzlich her?) Fußspuren sicherten. Oh nein! Hatte ich gerade unfreiwillig Vergleichsspuren geliefert?
„Frollein Stinkesocke! Hör auf zu träumen! Du liegst nicht in der Karibik und lässt dich von der Sonne bräunen, sondern…“ – Sie sprach nicht weiter, sondern lachte schon wieder. Statt ‚Stinkesocke‘ hatte sie
meinen Nachnamen gesagt, den ich hier natürlich nicht so wiedergebe. „Ich glaub das alles nicht. Jule!!!“ Jemand rüttelte fest an mir.
Ich schreckte hoch. Richtete mich auf. Neben dem Bett stand mein Rollstuhl. Zum Glück war er noch da. Die Decke war weg. Und Cathleen lag
neben mir und gackerte wie ein Huhn. Und alles war patschnass. Ich schob mein Kissen nach oben, um zu retten, was noch zu retten war. War ich das gewesen? Der Raum um mich herum begann sich zu drehen. Ich war total neben der Spur. Dieser Alptraum war die eine Sache, aber wieso war
mir dabei ein Menschenleben so egal?! Krass!!! So bin ich nicht und so will ich auch nie sein. Ich war völlig mitgenommen. Ich fing an zu weinen.
Cathleen kiecherte immernoch, nahm meinen Kopf in den Arm und drückte
ihn an ihre Schulter. „Wenn du jetzt wegen der Sauerei hier anfängst zu
heulen, kriegen wir beide ernsthaften Streit. Das sag ich dir.“ – Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab so scheiße geträumt. Ich hab ne Hütte angezündet, in der ein Obdachloser lag. Ich weiß überhaupt nicht, was das sollte. So ein Scheiß. Ich war ohne Rolli unterwegs und die haben mich verhaftet und ich hab die ganze Zeit versucht, nicht aufzufallen und irgendwie wussten die aber doch, dass ich das war und … ach was für eine Kacke!“
„Kacke zum Glück nicht“, erwiderte Cathleen und streichelte mir über den Kopf. – ‚Du dumme Kuh, mach dich noch über mich lustig‘, dachte ich mir. „Wieso liegst du überhaupt in meinem Bett?“ fragte ich sie. „Und wieso steht hier ein Spuck-Eimer neben meinem Bett? Und wieso ist es schon halb neun? Ich muss doch um halb fünf aufstehen!“
„Erinnerst du dich nicht?“ fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. „Du hast die heute nacht die Seele aus dem Leib gekotzt. Du hast irgendwas gegessen, was du nicht vertragen hast. Vermutlich. Oder zu viel Stress gehabt oder sonstwas. Nach dem zwanzigsten Mal haben wir deine Ärztin angerufen. Die kam vorbei, hat dir was gespritzt und meinte, du würdest danach schlafen wie ein Baby. Es sollte aber jemand bei dir bleiben. Frank hat heute nacht deine Krankmeldung für heute gefaxt und gesagt, ich soll den Wecker ausstellen, du schläfst heute aus.“
Ich weiß nichts mehr davon. Dass ich gekotzt habe, ja. Daran kann ich
mich erinnern. Wir waren mit ein paar Leuten beim Brasilianer. Möglich,
dass ich dort irgendwas nicht vertragen habe. Ja, ich hatte gekotzt und
ja, es war ziemlich heftig. Zum Schluss kam nur noch Magensäure. Lecker. Und mein Kopf dröhnte. Irgendwann muss mich jemand ins Bett gebracht haben. Ich habe irgendein Teufelszeug in die Vene gespritzt bekommen, danach war wohl schlagartig Ruhe. Dass meine Ärztin bei mir war, daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Aber es muss
heftig gewesen sein, denn als ich eben niesen musste, tat mein Schulter-Nacken-Bereich extremst weh (Muskelkater).
Inzwischen geht es mir wieder blendend. Bißchen müde noch, beim Niesen Muskelkater… aber sonst? Der Alptraum war gemein. Irgendwie habe ich, glaube ich, seit über vier Monaten keinen mehr gehabt. Und ich hoffe, ich bin nur in meinen Träumen so ein schlechter Mensch. Unglaublich.