Kalte Dusche

Noch nicht reif genug zu sein, um alle möglichen Schwierigkeiten vorauszusehen, kann ein Vorteil sein. Noch nicht schlau genug zu sein, um zu erkennen, wo ein Holzweg beginnt, ebenfalls. Manchmal können Reife und Weisheit von Nachteil sein – dann nämlich, wenn sie einem Angst machen und man vor lauter Angst sich nicht mehr traut, auf sein Herz oder seinen Bauch zu hören.

Es ist unprofessionell, zu einer Klientin eine persönliche (freundschaftliche) Beziehung aufzubauen oder zu unterhalten. Es ist noch unprofessioneller, eine Klientin spüren zu lassen, dass man sie lieb hat. Und es hätte mich meinen Job gekostet, hätte ich das, was ich getan habe, in einem Job getan.

Maria hat in der letzten Woche bei mir geschlafen. Ich hatte mit ihr seit Ende meines Praktikums in ihrer Einrichtung noch ein paar Mal Kontakt per Mail, letzte Woche haben Cathleen und ich sie abgeholt, einen supertollen Tag und einen noch schöneren Abend zusammen verbracht und ihr nebenbei einen ganz, ganz großen Wunsch erfüllt: Sie hat sich einen Wellness-Abend gewünscht, denn für mehr als duschen, Haare waschen und Zähne putzen ist in ihrer Einrichtung kaum Zeit.

So waren Cathleen, Maria und ich zu dritt in einer großen Badewanne (die Zwillinge eine Etage tiefer haben eine riesige Pflegebadewanne), hatten sehr viel Spaß, haben Maria überall rasiert, Nägel geschnitten, Ohren geputzt, ihr eine Haarkur verpasst, sie hinterher bei mir aufs Bett gelegt und schön eingecremt von Kopf bis Fuß, ihr die Augenbrauen und einige überflüssige Härchen gezupft und sie zu zweit bestimmt eine Stunde lang massiert. Sie lag da so friedlich und entspannt, dass ich ein paar Mal auf ihren Brustkorb geschaut habe, um festzustellen, ob sie überhaupt noch atmet.

Anschließend haben wir zu dritt in meinem Bett gelegen und sie bei einem DVD-Abend mit Gurkenscheiben, Karottenstückchen und anderen kohlenhydratarmen Lebensmitteln (mit Gruß an ihren insulinpflichtigen Diabetes) abgefüllt. Wir hatten jede Menge Spaß und sind irgendwann einfach eingeschlafen. Einmal bin ich in der Nacht aufgewacht, habe mich gewundert, wieso mein Bein unter der Decke raushängt und wieso auf dem Fernseher Streifen flimmern, habe die beiden Übel kurzerhand behoben und
weitergeschlafen.

Als wir am nächsten Tag auf dem Weg zurück in ihre Einrichtung waren, hat sie uns mindestens ein Dutzend Mal erzählt, wie toll sie den Abend fand. Besonders die Massage: „Das war so entspannend und so angenehm, ihr hättet mit mir machen können, was ihr wollt.“ – Woraufhin ich antwortete: „Für einen Moment hatte ich schon überlegt, ob ich meine Reitgerte aus dem Schrank hole.“ – Bei Maria dauert es immer drei, vier Sekunden, bevor sie eine Reaktion zeigt. So hatte Cathleen schon Lachtränen in den Augen, bevor Maria überhaupt eine Miene verzogen hatte. Sie lachte nicht, sondern antwortete: „Beim nächsten Mal hätte ich gerne dich als Domina und Cathleen als Krankenschwester. In weißer Latexschürze.“ – Ein älterer Mann guckte sie entsetzt an und ging im Waggon eine Tür weiter. Cathleen antwortete: „Dann kriegst du aber als erstes von mir einen Einlauf.“

Als wir Maria wohlbehalten wieder ablieferten, wurden wir Zeuge einer unglaublichen Szene. Wir rollten über den Flur, vorbei an einem Stationsbadezimmer, und drinnen schrie eine (der Stimme nach) ältere Frau wie am Spieß. Da der Raum gefliest ist, hallte das Geschrei entsprechend von den Wänden wider und lieferte eine unheimliche Atmosphäre. Eine tiefe Frauenstimme unterbrach das Geschrei mit noch lauterem Gepöbel: „Wo sollst du hingehen, wenn du musst?!“ – Da keine Antwort kam, gab sie vor: „Auf die Toi…“ – Die andere Stimme ergänzte: „…lette.“ – Die erste Stimme fragte wieder: „Wohin? Auf die“ – Die andere Stimme ergänzte eher hastig: „… die Toilette.“ – Ich war kurz davor, dort reinzustürmen und nachzuschauen, was da abging, in dem Moment sagte die Frau, die vorher gepöbelt hatte, aber leise: „Siehst du, du weißt es doch.“

Also fuhren wir erstmal in Marias Zimmer. Ich fragte Maria: „Was ist denn da los?“ – „Ach, das ist Sabine, wahrscheinlich hat sie wieder eingekackt.“ – Ich schluckte. „Und wieso schreit die so?“ – Maria antwortete: „Vermutlich kalte Dusche!?“ – Ich fragte nach: „Wie – kalte Dusche…“ – „Na, kalte Dusche! Erziehungsmaßnahme.“ – „Wie jetzt, die wird kalt abgeduscht, weil sie in die Hosen gekackt hat?! Das ist jetzt nicht dein Ernst.“ – „Sabine ist geistig nicht mehr die Hellste, aber weiß eigentlich, was wohin gehört. Sie setzt es nur nicht immer um. Weil
sie es vergisst, weil sie es vielleicht doch nicht so schnallt, keine Ahnung. Nur das solltest du halt bei Marion nicht machen. Ich weiß das. Sabine weiß das aber nicht. Beziehungsweise kapiert es nicht oder vergisst es wieder.“

Marion, eine Frau schätzungsweise Anfang 60, kurze graue Haare, eher männliche Statur, tiefe Stimme, unangenehm streng. Ich hatte mit ihr als Kollegin nur zwei Mal während meines Praktikums zu tun, beide Male hat sie mich für irgendeine Aufgabe aus dem Haus geschickt. Sie war die einzige, die mir kein „Du“ angeboten hatte. Eine andere Kollegin sagte mal, Marion sei keine examinierte Kraft, sondern eine der Hausfrauen, die man in den 60er-Jahren reihenweise angeworben hatte, als es zu wenig Pflegepersonal in Behinderteneinrichtungen gab.

Ich fragte Maria: „Also jetzt nochmal: Marion duscht Sabine absichtlich kalt ab, um ihr eine Lektion zu erteilen?“ – Maria antwortete: „Ja. Aber beweis das mal.“ – „Woher weißt du denn das?“ – „Das hat hier jeder schonmal miterlebt.“ – „Aber wieso meldest du denn das nicht?“, wollte Cathleen wissen. – „Wie soll ich das beweisen? Sie wird alles abstreiten und hinterher ist alles genauso wie es war. Die werden doch eher ihr glauben als mir. Die Auswirkungen, wenn das schief läuft, kann man doch gar nicht überblicken. Ich bin doch immer wieder und vermutlich noch Jahre lang von ihr und ihrer halbwegs guten Laune abhängig.“

Ich fragte mich, wieso ich von alledem während meines Praktikums nichts mitgekriegt hatte. Ich fuhr zum Stationszimmer, klopfte, erzählte Katja, der Stationsleiterin, dass ich Maria wohlbehalten wieder zurückgebracht hatte. Ich fragte sie: „Sag mal, wer schreit denn da im Bad so? Das hört sich ja an als wenn jemand geschlachtet wird.“ – „Das ist Sabine, die schreit manchmal so, wenn sie geduscht wird.“ – „Als ich hier war, hat sie nie so geschrien, oder? Warum meldest du nicht, was da abläuft!?“ – „Ich weiß es nicht. Ich bin 25 und Stationsleiterin, sie
ist über 60. Sie hat keinen Respekt vor mir. Es steht Aussage gegen Aussage und im Zweifel gilt die Unschuldsvermutung.“ – „Och Katja! Tolle Ausrede. So wird sie auch nie Respekt kriegen! Die kannst du doch nicht alles machen lassen! Du hast doch eine Verantwortung für die Leute!“

In dem Moment kam Marion um die Ecke. „Na? Wer hat Verantwortung?“ – Ich schluckte. „Wir alle, oder?“ – „Naja, mal mehr, mal weniger. Ich bringe jetzt den Klaus ins Bett.“ – „Hoffentlich hat der nicht auch eingekackt!“ schoss es wütend aus mir heraus. Marion grinste nur dumm, sagte: „Der macht sowas nicht.“ – „Hat wohl Angst vor kalten Duschen.“ – „Kalte Duschen haben noch keinem geschadet. Sie regen den Kreislauf an, pumpen sauerstoffreiches Blut ins Hirn. Das ist manchmal nicht verkehrt.“ – „Bisher war es von mir nur eine Vermutung, aber für mich klingt das gerade wie ein Geständnis. Hat Sabine da wirklich gerade eine kalte Dusche bekommen?“ – „Und wenn schon. Wie ich schon sagte, kalte Güsse regen den Kreislauf an.“

Über ihren Anwalt hat Marion drei Tage später gegenüber der Heimleitung erklären lassen, dass sie Sabine nicht mutwillig kalt abgeduscht habe. Sie könne lediglich nicht verhindern, dass manchmal kurzzeitig kaltes Wasser aus dem Schlauch käme, vor allem zu Beginn des Duschens. Zu „Erziehungszwecken“ sei von ihr niemals kaltes Wasser gegen Bewohner der Einrichtung eingesetzt worden.

Das erzählte mir der Heimleiter kurz danach am Telefon. Ich kochte: „Wenn ich jemanden abdusche, der zumindest zeitweilig nicht rafft, wohin man seinen Darm entleert, habe ich doch mindestens einen Finger im Wasserstrahl und kontrolliere so die Temperatur, oder? Könnte ja auch mal zu heiß werden. Und wenn ich merke, dass das Wasser (noch) kalt ist, halte ich dann den Strahl auf denjenigen oder eher erstmal gegen die Wand?“ – „Das ist eine saudumme Ausrede, das wissen wir hier alle, Jule. Wir haben vor Jahren extra Thermostatmischer teuer einbauen lassen, damit das Wasser nie zu heiß wird. Am Anfang kommt es natürlich trotzdem erstmal kalt. Mehr als eine Abmahnung ist aber trotzdem nicht drin. Gemessen an der dürftigen Beweislage haben wir uns damit schon sehr weit aus dem Fenster gehängt. Den Ausschlag hat Marias Aussage gegeben.“

Ich wurde hellhörig. Der Leiter der Einrichtung erzählte mir am Telefon, Maria habe ihn aufgesucht und erklärt, sie sei von Marion vor etwa zwei Jahren komplett mit eingepinkelten Klamotten in eine kalte Badewanne gesetzt worden. „Die Frau steht unter Beobachtung. Beim nächsten kleinen Ding fliegt sie raus. Mehr können wir im Moment nicht machen.“ – „Und Maria?“ – „Wird nicht mehr von Marion betreut. Wir haben ihr untersagt, die Frau auch nur anzuschauen. Sie wird auch niemals mehr alleine Dienst bei uns machen. Wir haben den Vorfall übrigens auch der zuständigen Heimaufsicht gemeldet. Wir nehmen das sehr ernst.“

Na hoffentlich. So ganz traue ich dem Frieden nicht. Ich werde den Kontakt zu Maria jedenfalls so schnell nicht abbrechen. Im Gegenteil.

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