Diese letzten 24 Stunden hätten gerne anders verlaufen dürfen. Was für ein schräger, heftiger und vor allem unheimlicher Mist!
Irgendwelche Typen, die ich nicht kenne und vermutlich noch nie in meinem Leben gesehen habe, warfen mir aus heiterem Himmel und ohne einen Zusammenhang auf dem Nachhauseweg vor, ich hätte an mindestens drei Tagen durch drei verschiedene Handlungen, die sie aber erstmal nicht näher benennen wollten, Cathleen sexuell belästigt. Ich dachte mir so: Das lässt sich ja ganz schnell klären, fragen wir doch Cathleen selbst, die rollt zehn Meter hinter mir.
Cathleen sagt dazu gar nichts, auf einmal haben diese Leute ein Buch in der Hand, Ringheftung, A5, etwa 250 Seiten, drinnen kariertes Papier, mit blauem Kugelschreiber beschrieben. Ein Tagebuch, in dem viel geschrieben und viel gemalt ist. Mehrere Einträge beschreiben eine sexuelle Belästigung durch mich. Einzelne Zeichnungen sind vorhanden, die ich auf die Schnelle, in der ich das unter die Nase gehalten bekomme, nicht entschlüsseln kann.
Ich erinnere mich komischerweise an diese einzelnen Handlungen, die dort beschrieben sein sollen, und verstehe komischerweise auch, dass Cathleen diese als sexuelle Belästigung versteht. Ich bin mir unsicher, wie ich reagieren soll. Ich habe ein total schlechtes Gewissen und würde das alles gerne mit Cathleen unter vier Augen klären, aber dafür sei es zu spät, Cathleen lehnt es auch selbst ab, mit mir alleine zu reden. Sie habe Angst vor mir.
Was folgt, sind gefühlte drei bis vier Stunden tiefste Hölle. Ich weiß, dass ich irgendwas verbotenes getan habe, das sagt mir mein schlechtes Gewissen, ich weiß nicht genau, was, und irgendwie gibt es absolut keine Lösung. Es gibt keine Ansätze, keinen vernünftigen Dialog, über Stunden immer wieder dieselben Vorhaltungen durch diese Typen, die ich nicht zuordnen kann.
Vermutlich waren diese drei bis vier Stunden nur wenige bis zwanzig Minuten und dass wir alle auf dem Weg zu meinem früheren Elternhaus waren, fällt mir erst auf, als ich schweißgebadet und angepinkelt aufwache. Was für ein bescheuerter Alptraum! Lange hatte ich keinen, zumindest erinnere ich mich nicht daran, dafür war dieser mal wieder umso heftiger. Ich hatte einige Mühe, mich und meine Gedanken erstmal zu ordnen, mich kurz zu duschen, mir trockene Sachen anzuziehen und mich auf den Weg zu Cathleen zu machen.
Es war kurz vor neun Uhr, um neun wollten wir ohnehin aufstehen, weil für heute eine Trainingseinheit angesetzt war, ich klopfte an Cathleens Zimmertür, durfte rein, erzählte Cathleen, was passiert war, und sie war total lieb zu mir. Sie meinte, ich hätte sie geweckt und sie wollte noch zehn Minuten im Bett bleiben, ich solle mich zu ihr legen und erzählen. Und dann hat sie mich die ganze Zeit in den Arm genommen und mir über den Kopf gestreichelt und mir ein paar Mal einen Kuss auf die Wange gegeben und mehrmals gesagt, dass das nur ein böser Alptraum war und sie sich mit mir und meiner Nähe absolut wohl fühle. Ist mir eigentlich ja auch klar, aber nach so einem Erlebnis brauche ich das noch einmal intensiv bestätigt.
Ich frage mich, welches schlechte Gewissen mich da gequält hat. Welche Gedanken oder unverarbeiteten Erlebnisse dahinter stecken, wenn ich so einen Mist träume. Keine Ahnung. Richtig unheimlich und kurios wird es aber erst noch.
Um 11 Uhr kamen wir beim Training an, es stand Schwimmen auf dem Programm und es sollten vor allem Ausdauer und Technik unter erschwerten Bedingungen (es war recht windig) geübt werden. Da wir nur 15 Grad Lufttemperatur haben und das Wasser auch nicht viel wärmer ist, wurde mit Neo geschwommen.
Es gibt bei uns im Verein jemanden, männlich, um die 30, der steht auf Popos in Neos. Ist ein total lieber Kerl, hat aber diesen Faible. Es Spleen zu nennen, wäre zu hart, denn er geht offen damit um und ist nicht platt und primitiv, sondern sehr schmeichelhaft und respektvoll. Man kann darüber diskutieren, ob es manchmal etwas nervt, aber für mich ist es insgesamt okay. Die Konversation beschränkt sich nicht nur auf dieses eine Thema, man kann sich auch sehr gut über andere Dinge mit ihm unterhalten und er ist auch immer sehr interessiert. Er begrüßt alle Mädels immer sehr herzlich mit fester, enger Umarmung. Ich bin mir sicher und ich fühle, dass seine Zuneigung nicht nur durch seinen Faible begründet ist. Ich kenne ihn jetzt seit über zwei Jahren und mir (und auch einigen anderen Mädels in meinem Alter) macht es einfach großen Spaß, mit ihm rumzuflirten und rumzushakern, ihm den Kopf zu verdrehen …
ich habe mich noch nie unwohl dabei gefühlt. Mir gefällt die Aufmerksamkeit, die er mir schenkt. Ich glaube, er ist Dauersingle und ich schätze, er will daran auch nichts ändern. Eine über eine lockere Freundschaft hinaus gehende Beziehung kommt für mich nicht in Frage, um diesen Gedanken gleich abzuwürgen.
Heute saßen wir im Gras und waren dabei, uns in den Neo zu zwängen. Es ist klar, dass, wenn der Typ daneben sitzt, ich meinen Neo nicht alleine über meinen Po kriege, sondern Hilfe brauche. In der Tat geht es mit Hilfe sehr viel einfacher. Wir alle könnten auch Tatjana fragen oder uns gegenseitig helfen, aber wie gesagt, ich finde seine Aufmerksamkeit schmeichelhaft, ihm gefällt es, uns zu helfen – eigentlich müsste ich mich dafür nicht rechtfertigen.
Oft klettern wir über einen auf Pontons schwimmenden Holzsteg mit Rampe zum Ufer ins Wasser, weil wir dann mit den Rollis direkt bis an die Wasserkante fahren können. Dann setzt man sich mit dem Po auf den Steg und lässt sich ins Wasser plumpsen gleiten. Meistens muss man aber im Wasser nochmal seine Badekappe, Schwimmbrille, Zopfgummi, Haarklammer, whatever, richten und da der See an der Stelle bereits tief ist, bräuchte man dafür nun seine Beine. Man kann schlecht mit beiden Händen an der Badekappe rumfummeln und gleichzeitig nicht untergehen.
Nun gibt es natürlich Tricks. Man könnte das erledigen, bevor man ins Wasser rutscht, man könnte sich mit einer Hand am Steg festhalten und mit der zweiten Hand das Problem lösen, man könnte kurz untertauchen, das Problem lösen und wieder auftauchen … oder ich bitte halt jemanden, vorzugsweise den besagten Typen, ob er mich kurz festhalten kann. Also sich mit einer Hand am Steg festhalten und mich mit der anderen Hand so fest an sich randrücken, dass ich nicht untergehe. Das zu fragen, ist nicht unüblich, normalerweise würde ich halt Cathleen oder Yvonne oder Marie fragen. Dass ich (und andere) vorzugsweise den besagten Typen frage, gehört einfach zu dem ganzen Spielchen dazu.
Man kann auch fragen, ob er einmal fühlen kann, ob der Reißverschluss richtig zu ist oder am Po alles richtig sitzt. Wir haben auch schonmal ausprobiert, wie man sich gegenseitig im Wasser zieht, wir haben am Strand ausprobiert, wer stärker ist und sahen aus wie die panierten Schnitzel … es macht einfach Spaß.
Heute nun begannen die Frauen mit dem Training, die Männer blieben zurück, da wir nicht dasselbe trainieren und unterschiedliche Trainer haben (nur meistens zur gleichen Zeit vor Ort sind), habe ich mich nicht
weiter darum gekümmert. Als wir nach unserer Einheit wieder am Steg waren, waren die Männer noch beschäftigt, nur sah ich unseren Typen nicht mehr dazwischen. Ich fragte meine Kolleginnen, aber die waren auch
ratlos. War der abgesoffen? Eher unwahrscheinlich.
Nein. Er saß, sichtlich mitgenommen, an einem dort festinstallierten Holztisch, neben ihm drei Typen aus unserem Verein, allerdings aus einer völlig anderen Sportart und mir auch nur vom Sehen bekannt. Irgendwas war da vorgefallen, das hatte ich im Gefühl. Er schaute zwar zu uns herüber, verzog aber keine Miene. Mir kam das komisch vor, also beschlossen Cathleen und ich, dorthin zu fahren.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich ihn. Er nickte, der eine Typ, ein Fußgänger, Ende 30, Cargohose, sportliches Oberhemd, fuhr mich an: „Wir haben hier ein Gespräch, könnt ihr uns mal alleine lassen?“
Na sicher. Wir waren schon fast wieder weg, als ich unseren Neoliebhaber sagen hörte: „Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Immerhin geht es indirekt um sie.“
Das war der Moment, in dem sich Cathleen und ich wie abgesprochen wieder umdrehten und zurück rollten. „Wenn es um uns geht, möchte ich wissen, was hier los ist. Haben wir was falsch gemacht?“ – Der Typ mit der Cargohose antwortete und forderte uns dabei quasi mit einem Nicken auf, uns wieder zu entfernen: „Nein, nein, alles in Ordnung. Wir unterhalten uns hier nur mal.“
„Hier stimmt doch was nicht“, sagte ich und wandte mich zu unserem Neoliebhaber. „Können wir dir irgendwie helfen? Wenn es was mit uns zu tun hat, möchte ich wissen, was hier besprochen wird.“ – Cathleen fügte hinzu: „Ich auch.“
Bevor der Cargohosen-Typ noch was sagen konnte, Luft hatte schon geholt, antwortete unser Neoliebhaber: „Ich werde hier gerade zusammen gefaltet, weil ich euch zu nahe komme.“ – Der Cargohosen-Typ räusperte sich übertrieben laut und funkelte den Neoliebhaber an. Es wurde interessant, jedoch auch sehr unheimlich, denn ich fühlte mich gerade sehr an meinen letzten Alptraum erinnert. Ich spürte, dass Cathleen mich von der Seite ansah. Ich sagte: „Waaas?! Was soll das denn?! Wieso solltest du uns zu nahe kommen und wieso redet man nicht erst mit uns, bevor man das Thema aufgreift?“
„Man findet, ich hätte wegen meines Alters und meiner langen Gruppenzugehörigkeit eine Vorbildfunktion. Dieser werde ich nicht gerecht. Mir wird vorgeworfen, dass ich jungen Mädchen an den Po fasse, dass ich mich benehme wie ein 15jähriges Kind und mich mit euch im Sand raufe und dass ich … [eine 23jährige Rollstuhlfahrerin] eine Woche lang in meinem Gästezimmer hab schlafen lassen, weil sie Stress zu Hause hatte.“
Ich sagte: „Das ist doch wohl nicht euer Ernst. Ich distanziere mich davon, ich kann auf mich alleine aufpassen. Es hat zu keinem Zeitpunkt irgendeine Handlung von dir gegeben, mit der ich nicht einverstanden war. Um die meisten Dinge habe ich dich ja sogar gebeten. Das würde ich notfalls auch noch schriftlich bestätigen.“ – „Ich auch“, sagte Cathleen.
„Darum geht es nicht“, antwortete der Typ in der Cargohose. „Es geht um das sexualisierte Klima, das durch ihn hier verbreitet wird. Er ist einfach alt genug, um dem wiederstehen können zu müssen, wenn junge Mädchen ihm schöne Augen machen.“
„Sag mal, habt ihr Komplexe oder was?! Das ist jawohl nicht euer Ernst! Sexualisiertes Klima. Für mich ist er eine große Hilfe. Ob er das aus sexuellen oder freundschaftlichen Motiven macht, ist mir scheißegal, solange er mich respektvoll behandelt und meine Grenzen beachtet. Beides ist der Fall und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sich davon gestört fühlt, wenn wir fünf Minuten miteinander rumshakern.“
„Wir wollen diese Athmosphäre bei uns nicht haben.“ – „Bei uns? Ihr gehört doch überhaupt nicht zum Triathlontraining dazu! Hat der Vorstand euch geschickt?“ – „Der sieht das genauso.“ – „Hat er euch geschickt? Ich ruf den jetzt an.“ – „Nein, hat er nicht.“ – „Dann schlage ich vor, dass wir das Thema in einer großen Runde hier vor Ort klären mit allen irgendwie Beteiligten, und den Vorstand dazu einladen. Ihr werdet selbstverständlich auch eingeladen, wobei ich aber im Moment nicht weiß, in welcher Funktion oder Rolle.“
„Das wird man dir dann sicherlich erklären“, sagte der Cargohosen-Typ patzig. Letztlich wollten die drei dieses Treffen aber dann doch nicht und zogen ziemlich schnell von dannen, als immer mehr Leute dazu kamen und teils mit offenem Mund hörten, was hier gerade abging. Dem Neoliebhaber war das alles nur noch peinlich und er meinte: „Ich glaube, ich brauche hier nicht mehr aufzutauchen.“
Stimmt nicht. Keiner der Anwesenden, weder Jungs noch Mädchen, sahen das so. Auch die beiden Trainer waren eher von dem Besuch irritiert als von unserem Geflirte. Ich weiß nicht, was das Theater dieser Spielverderber sollte. Ich weiß nicht, wieso ich vorher sowas geträumt habe. Ich weiß aber, dass mir ohne diesen Neo-Typen definitiv etwas fehlen würde und ich kann nicht verstehen, warum man uns nicht einfach unseren Spaß lassen kann. So viel Spaß wie vorher werden wir vermutlich eine lange Zeit erstmal nicht mehr haben können.