Vor etwa drei Monaten kam in unsere Trainingsgruppe eine knapp 24jährige Frau, Rollstuhlfahrerin mit angeborener Querschnittlähmung (Spina bifida), wollte bei uns mittrainieren, war eigentlich mal in der (professionellen) Gruppe „über“ uns, hatte da aber wohl, wie sich jetzt herausgestellt hat, zunehmend persönliche Probleme.
Heute nun ist sie (auch) aus unserer Trainingsgruppe rausgeflogen. Die Verantwortlichen haben die Reißleine gezogen, sozusagen als letztes Mittel, um Schaden von anderen Teilnehmern abzuhalten. Und ich muss sagen: So sehr ich dafür bin, aufeinander zuzugehen, sich gegenseitig zu
verstehen, Rücksicht zu nehmen, den anderen zu respektieren und zu akzeptieren – so sehr begrüße ich diese Entscheidung. Es mag überheblich
und anmaßend klingen, aber dennoch bin ich froh, dass das Drama ein Ende hat und sie weg ist.
Sportlich war sie mittelmäßig, eher leicht unterdurchschnittlich, persönlich kam man gut mit ihr klar, solange es auf einer oberflächlichen Gesprächsebene blieb und man ihrer Meinung war. Womit wir bei dem Thema wären, das sich wie ein roter Faden durch unsere gemeinsamen letzten drei Monate schlängelt: Kritikfähigkeit und Selbstreflexion. Fehlende Kritikfähigkeit und kaum vorhande Selbstreflexion. Und sowas ist verdammt anstrengend.
Ich halte mich für einen sehr geduldigen Menschen und es dauert verdammt lange, bis mir der Geduldsfaden reißt, aber hätte nicht in der letzten Woche Tatjana die Weichen für einen Rauswurf gestellt, hätte ich
mir überlegt, meine weitere Trainingsteilnahme davon abhängig zu machen, ob diese Person vor Ort ist. Das soll bitte keiner falsch verstehen, ich habe und hätte niemandem die Pistole auf die Brust gesetzt. Ich hätte das für mich entschieden, ohne großes Theater. Und hätte mir eine andere Trainingsgruppe gesucht, vielleicht gemeinsam mit einigen anderen Leuten.
Dass jemand mal Scheiße baut, ist völlig normal. Ich würde eher einen
Menschen komisch finden, der nie etwas verkehrt macht, als jemanden, dem hin und wieder mal ein Fehler passiert. Ja, ich mache auch Fehler und ja, ich mache vielleicht sogar mehr Fehler als andere Menschen. Aber
wenn ich einen Fehler gemacht habe, dann kann ich dazu stehen. Ja, Kritik kann hart sein und ja, Kritik stecke ich manchmal nicht sofort weg. Und manchmal bin ich aus für mich sachlichen oder persönlichen Gründen auch anderer Meinung. Manchmal bis zu einem Kompromiss, manchmal
auch nur noch einen Moment, bis ich einsehe, dass meine Haltung unsinnig, auf Kosten anderer, lieb- oder respektlos ist – manchmal bin ich auch nicht mal bereit, einen Kompromiss zu finden, weil ich von meiner Meinung nicht abweichen kann oder will. Das alles gehört zu mir, zu meiner Persönlichkeit.
Was wir in unserer Trainingsgruppe hinter uns haben, lässt sich kaum beschreiben. Ich nehme am Training teil, weil ich etwas lernen, mich verbessern möchte. Also nehme ich die Kritik von unserer Trainerin an, zumal sie die immer sachlich und respektvoll rüberbringt. Und klar, man kann mal anderer Meinung sein, auch das ist ihr recht, schließlich will sie uns zu selbständigen Menschen trainieren. Beim Rennen muss ich auch eigene Entscheidungen treffen. Aber es kann doch nicht sein, dass man jeden noch so klitzekleinen Ratschlag ausdiskutiert. Die nun rausgeflogene Sportlerin meckert rum, dass sie eine gewisse Geschwindigkeit nicht erreicht und Tatjana sagt: „Hast du schonmal probiert, deine Handhaltung zu ändern? Sie ist sehr ungewöhnlich.“ – „Ja, das funktioniert nicht, das mache ich schon immer so seit 10 Jahren, daran liegt das nicht.“
Tatjana teilt Kleingruppen ein. Grundsätzlich: „Wieso darf ich nicht mit xy zusammen in die Gruppe, immer bekomme ich Leute, die mich nicht fordern, ich will mit yz zusammen trainieren.“ – Oder, wie im Kindergarten: „Wieso darf diejenige heute eine Runde weniger fahren als ich?“
Nach dem zwanzigsten Zwischenfall platzt Tatjana der Kragen und es kommen dann Kommentare von ihr wie: „Wenn du meinst, dass du bei mir nichts mehr lernen kannst, dann such dir doch bitte eine andere Trainerin.“ – Worauf die ehemalige Teamkollegin dann angefangen hat zu heulen. Niemand verstehe sie, alle seien gegen sie, ihr würde aus ihrer Behinderung ein Nachteil gestrickt, niemand glaube an ihre Leistungen, die Haltung der Trainerin sei ursächlich für ihre Mittelmäßigkeit.
Es folgen mehrstündige Gespräche, in denen Tatjana ihr erklärt, dass sie Kritik annehmen muss, dass sie ihren eigenen Standpunkt überdenken muss. Bei allem Respekt vor ihrer Sensibilität, ein gesunder Dialog müsse noch möglich bleiben. Die Sportlerin bittet Tatjana, Kritik weicher zu formulieren, was anfangs Erfolg hat, jedoch bald scheitert, weil eine Trainerin, die auf dem Mountainbike nebenher strampelt, ruft: „Und JETZT schalten und SOFORT mit dem Sprint beginnen, und sofort wieder hochschalten, das dauert viel zu lange, das muss zackiger kommen.“
So ist das nunmal. Sie hat mich trotzdem lieb, trotz des rauen Tonfalls. Ein Chirurg im OP ruft auch nur „Zange“, „Tupfer“, „saugen“ und nicht: „Verehrte Schwester, hätten Sie die Güte, das Erbarmen und die Zeit, mir die vierunddreißigste Zange von links geöffnet und mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen in meine rechte Hand zu legen?
Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“ – Außerhalb des Trainings redet sie ja nicht so forsch.
Und wenn das alles nicht klappt, kann es eben auch mal sein, dass Tatjana sagt: „So, anhalten.“ – Worauf hin besagte Kollegin dann sagte: „Du kannst mich mal, ich fahr jetzt weiter.“ – Und Tatjana dann umdreht und sich um andere Leute kümmert, hinterher aber angeschwärzt wird beim Vereinsvorstand. Nee, echt nicht.
Am besten war die Aktion mit der Klobürste, die stellvertretend für mindestens zwei Dutzend ähnliche Fälle steht: „Ähm, xy, würdest du bitte
die Klobürste benutzen, wenn du das WC benutzt hast? Das ist eklig.“ – „Ich war das nicht.“ – „Du warst doch aber gerade auf Klo.“ – „Nein, ich
war nicht auf Klo.“ – „Entschuldigung, ich habe doch gerade gesehen, dass du hier aus dem Raum gekommen bist.“ – „Ich war nur Hände waschen.“
– „10 Minuten lang?“ – „Ich war nur 2 Minuten drin.“ – „Das stimmt nicht, ich warte seit über 10 Minuten darauf, endlich auf Klo zu können.
Und das ging nicht, weil du es besetzt hast.“ – „Ja, dann habe ich eben
10 Minuten Hände gewaschen.“ – „Und da war das Klo schon dreckig? Als wir vorhin abgeschlossen haben, war es doch noch sauber. Da war ich nämlich als letzte drauf und ich habe es sauber hinterlassen.“ – „Vielleicht hast du es ja auch nicht sauber gemacht.“ – „Ja vielleicht. Ist gut, ich habe keinen Bock, mit dir darüber zu diskutieren.“
„Das sieht dir ähnlich, andere beschuldigen, nur um von sich selbst abzulenken.“ – „Es reicht!“ – „Nein, ich musste mir deine Vorwürfe auch anhören.“ – „Ich möchte mit dir über das Thema nicht mehr sprechen.“ – „Aber ich mit dir. Du hörst mir jetzt mal zu. Ich finde das unmöglich, dass du mich vor anderen Leuten als diejenige hinstellst, die hier das Klo nicht saubermacht. Wie ein kleines Kind. Und ich sag dir was: Ja, ich habe das Klo nicht saubergemacht. Aber es war vorher auch schon dreckig.“ – „Du hast doch gerade abgestritten, überhaupt auf dem Klo gewesen zu sein. Das ist das, was hier ständig zu Stress führt.“ – „Ich habe nie gesagt, dass ich nicht auf dem Klo war. Ich habe gesagt, ich habe lange Hände gewaschen. Aber ich habe nicht gesagt, dass ich nicht auf dem Klo war. Was willst du mir hier eigentlich unterstellen? Du denkst wohl, nur weil ich behindert bin …“ – „Überleg dir genau, was du jetzt sagst, ich sitze auch im Rollstuhl.“ – „Ja aber erst seit drei Jahren. Ich seit dreiundzwanzig.“
Und so lief alles. So liefen alle Gespräche. Und sollte es mal so sein, dass alles Rauswinden nichts brachte, kam: „Ich hab das anfangs nicht richtig verstanden. Aber du musstest ja gleich ein Drama draus machen.“ – Ich kann es nicht mehr hören. Cathleen sagte immer: „Schlimmer als jede Ehekrise.“