Ein weiteres tolles Wochenende ist vorbei. Inzwischen kann ich fließend bayrisch. Zumindest verstehen. Als Hamburger Deern glaubte ich zu wissen, dass, wenn ich morgens meine Stinkesocken nicht wiederfinde, diese höchstwahrscheinlich „wech“ sind. Inzwischen habe ich aber gelernt: Sie könnten auch „fort“ sein.
Um gleich der Frage vorzubeugen: Ich trage nachts keine Socken. Es sei denn, es ist arschkalt. Aber selbst dann ziehe ich die Dinger im Schlaf meistens unfreiwillig aus, zumindest eine davon, so dass ich das auch gleich sein lassen kann. Wenngleich ich meine Beine und Füße nicht willentlich bewegen kann, bewegen tun sie sich im Schlaf trotzdem. Von alleine, durch Nervenimpulse, die die Muskeln gerne hätten oder glauben, wahrgenommen zu haben. Gerade wenn ich lange Zeit gesessen habe und dann die Beine strecke, fangen sie gerne an zu zappeln.
Von Marie oder Cathleen würde es, wenn wir unter derselben Decke liegen, irgendwann heißen: „Sag mal, kriegst du das langsam mal in den Griff mit deinen Füßen? Das Gezappel nervt.“ – Meine Schwestern lagen zwar nicht mit unter meiner Decke, sondern auf einem aufblasbaren Gästebett in meinem Zimmer, trotzdem reichte es aber irgendwann für ein: „Mogst need amoi dei haxn gscheit zammramma?“ – Wobei ich dann mich vor meinem inneren Auge einen Karton gepökelte Eisbeine verräumen sah und unwillkürlich zu lachen anfing.
Sie haben sich bemüht, hochdeutsch zu sprechen. Und es hat auch geklappt. Aber geflucht haben sie auf bayerisch. Und untereinander waren sie auch eher in ihrem Slang unterwegs.
Was mir besonders toll gefallen hat: Sie hatten nach wie vor kein Mitleid und haben mich nicht mit Samthandschuhen angefasst. Okay, ich erwähnte bereits, dass Paula schon seit frühester Kindheit eine enge Freundin hat, die wegen Spina bifida, einer angeborenen Querschnittlähmung, im Rollstuhl sitzt, und inzwischen mit ihr zusammen studiert. Womit natürlich auch Emma regelmäßigen Kontakt zu ihr hatte und auch noch hat. Das ist ja aber bekanntlich kein Garant dafür, dass sie sich mir gegenüber normal verhalten – umso schöner, dass sie es tun.
Wir hatten ein ziemlich gefülltes Wochenendprogramm. Beide hatten sich von mir eine Erkundungstour im Rollstuhl gewünscht. „Ich möchte das schon seit Jahren, meine Freundin sagt immer, ich soll es einfach tun, aber ich kann mir das einfach nicht erlauben. Bei uns zu Hause ist das Risiko einfach zu groß, dass mir jemand über den Weg läuft, der mich kennt und im günstigsten Fall sich nur erschrickt und hinterher dumme Fragen stellt. Es gäbe aber auch genügend Leute, denen könnte man das nicht erklären. Unsere Mutter würde ausflippen, wenn es wegen so einer Aktion später Theater gibt.“
„In Hamburg kennt uns keiner. Da können wir mal die Sau rauslassen.“ – Also fuhren Marie und ich zusammen mit Emma und Paula in die Sporthalle „meines“ Krankenhauses, um, bewaffnet mit zwei weiteren Rollis, den beiden das Rollstuhlfahren beizubringen. Wenn man schon so eine Entdeckungstour macht, gilt es auf alle Fälle zu vermeiden, dass Situationen entstehen, die anderen Menschen eine Hilfestellung abverlangen. Das gehört sich einfach nicht. So eine Behinderung „vorzuspielen“ ist eine Sache, solange aber kein Dritter unmittelbar betroffen ist, ist das aus meiner Sicht eine persönliche Sache. Aber nun sich noch von Dritten helfen lassen, obwohl man eigentlich auch aufstehen könnte, das ginge entschieden zu weit.
Also übten wir, wie man sich fortbewegt. „Drin gesessen hab ich ja schon oft bei meiner Freundin. Und rumgegurkt bin ich damit im Zimmer auch schon. Und ankippen kann ich auch“, sagte Paula, verschätzte sich mit der Kippfreudigkeit von Sofies leihweise überlassenen Zweitrolli und lag auf der Erde. Das Kinn hatte sie gerade noch rechtzeitig zur Brust gezogen, so dass sie nicht mit dem Hinterkopf auf den Hallenboden donnerte. Zwei Sekunden guckte sie verdattert aus der Wäsche, dann fing sie zu lachen an. Auf der Straße wären nun die Menschen zusammengelaufen, mindestens einer hätte 112 gewählt … hier in der Sporthalle, an deren Rand mindestens 30 Leute an Fitnessgeräten turnten oder auf Fahrradergometern radelten, kümmerte sich niemand um das Problem. Lediglich der anwesende Sporttherapeut murmelte im Vorbeigehen: „Fallsucht?!“
Nach zwei Stunden Crashkurs verkündete Emma: „Ich bin völlig nassgeschwitzt. Ich muss gleich erstmal duschen. Ich hätte nie gedacht, dass das so anstrengend ist. Obwohl, ‚anstrengend‘ ist das falsche Wort. Kraft braucht man eigentlich kaum, aber man muss sich unheimlich konzentrieren, um das alles präzise zu koordinieren.“ – Am Ende meinte der Sporttherapeut: „Ist genehmigt. Wollt ihr heute noch auf große Tour?“
Als wir wieder bei mir zu Hause waren, schnipselten wir mit vier Leuten eine Reispfanne zusammen. Plötzlich sagte Emma: „Wir haben neulich gesehen, dass du die Million voll hast. Seitenaufrufe meine ich, bei deinem Blog. Bist ja ganz schön berühmt geworden mit deiner Geschichte, oder? Hast du nicht manchmal Angst, dass deine Offenheit dir Nachteile bringt? Ich meine später mal im Job oder wenn du neue Leute kennen lernst. Es gibt doch viele Dinge, von denen man eigentlich nicht möchte, dass andere sie erfahren. Du schreibst irgendwie über alles.“
Ich antwortete: „Ich glaube, diese Angst muss man nur haben, wenn man Außenseiter ist. Ich formuliere das bewusst so krass. Wenn man Freunde hat, die einen mögen wie man ist, und ich bin überzeugt, die habe ich, dann kann es einem völlig egal sein, was andere, die (noch) nicht deine Freunde sind, über dich denken. Ich zwinge ja niemanden zu näherem Kontakt. Ich kann mir lediglich vorstellen, dass, wenn man keine Freunde hat, es cool sein könnte, über mich abzulästern. Wenn keiner da ist, der widerspricht, weil er mich gern hat, kann man sich vielleicht eher ergötzen über die Dinge, über die ich öffentlich schreibe, obwohl man sie eigentlich vor der Öffentlichkeit geheim hält. Hast du Freunde, die solche Lästereien gleich im Keim ersticken würden, traut sich keiner, schließlich will man sich damit nicht selbst zum Außenseiter machen. Ich habe vielmehr die Erfahrung gemacht, dass man mit Offenheit und Ehrlichkeit gut punkten kann.“
Ich fügte hinzu: „Nicht alle mögen das. Vor meinem Unfall wäre ich lieber gestorben als zum Beispiel gefragt zu werden, ob ich schon mal Sex hatte. Oder mich selbstbefriedigt. Obwohl ich das damals noch nie gemacht hatte. Geschweige denn Sex. Und heute? Ich rede nicht mit jedem über Sex. Oder über Selbstbefriedigung. Es bleibt schon etwas intimes. Aber kein Geheimnis. Es darf ruhig jeder wissen, ob ich das mache. Wenn es interessiert. Ich laufe auch nicht durch die Straßen und rufe das in die Welt hinaus. Aber wenn einer fragt, bekommt er eine ehrliche Antwort. Und wenn einer meinen Blog liest, liest er mitunter auch darüber etwas. Statistisch gesehen mache ich das sowieso, dann bin ich lieber eine Persönlichkeit als eine Nummer. Ich habe lieber klare Verhältnisse als Gerüchte.“
Emma fragte Marie: „Bist du auch so offen?“ – Marie sagte: „Ich weiß nicht. Im Prinzip schon. Ich schreibe halt keinen Blog. Aber wenn mich jemand was intimes fragt … es hängt immer davon ab, warum mich jemand etwas fragt. Wenn er sich über mich lustig machen will, gebe ich eher keine Antwort.“ – Paula fragte: „Okay. Masturbierst du?“ – Marie grinste. Und sagte dann: „Jetzt gerade nicht.“ – „Anknüpfend an die Geschichte von neulich: Weiß deine Mutter, dass du das machst? Oder vermutet sie es nur? Wirst du jetzt rot?“ – Marie antwortete: „Ich werde
immer rot bei solchen Themen. Aber sie weiß es.“ – Emma warf dazwischen: „Na, ihr habt ja Themen.“
Ich fragte: „Redest du mir ihr darüber?“ – „Um Himmels Willen. Nee. Nein, sie kam mal morgens in Zimmer und ich war halt im Bett, es war ein Sonntagmorgen, ich hatte mich sehr intensiv beschäftigt und war etwas verschwitzt. Sie wollte mich zum Frühstück wecken, sah mich und fragte, ob ich Fieber hätte. Wollte mir ihre Hand auf die Stirn legen und ich fauchte sie an: ‚Mama! Kein Fieber. Etwas mehr Diskretion bitte, ja?’“ – Ich grinste. Ich konnte mir das lebhaft vorstellen, auch den Gesichtsausdruck dazu. Ich fragte: „Und wie hat sie reagiert?“
„Ach, ganz süß eigentlich. Sie ist zurückgezuckt und sagte ‚Oh, Verzeihung. Ähm, Frühstück ist fertig.‘ Und später in der Küche hat sie mir einen Kuss gegeben und gesagt: ‚Mach dir keinen Kopf, okay? Es ist alles gut.‘ – Ich war damals 13 oder 14. Und da ist man doch noch etwas sensibler und grübelt über vieles nach. Beziehungsweise: Ich hab über vieles nachgegrübelt.“ – „Ich glaube, das ist normal.“ – „Und eine andere Situation hatte ich noch, da war ich 16 oder 17, da habe ich mir von meiner damaligen besten Freundin [aus einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit angeborener Querschnittlähmung] einen Vibrator ausgeliehen. Sie hatte den von ihrer größeren Schwester und eigentlich wusste ich nicht, was ich überhaupt damit wollte, aber es war cool und erwachsen und … naja, ich hab ihr versprochen, wenn ich den ausprobiere, zieh ich vorher ein Kondom drüber. Hab ich auch gemacht, nur leider hat meine Mutter das Kondom im Mülleimer entdeckt. Ich hatte damals einen Freund, mit dem ich aber nur geknutscht hatte, bevor es zum ersten Sex kam, waren wir schon wieder auseinander. Ich habe damals die Pille nicht bekommen, weil meine Mutter Angst hatte wegen Thrombose. Wir haben sehr offen darüber gesprochen und ich war einverstanden, dass ich sie nicht nehme, solange ich sowieso nicht mit ihm schlafe. Sie meinte, sie hat absolut nichts dagegen, wenn wir Sex haben, wir sollen nur unbedingt an Verhütung denken. Und ich habe ihr halt erklärt, dass wir höchstens fummeln, sie also ganz beruhigt sein kann. Und dann sah sie halt das benutzte Kondom.“ – „Und dann?“ – „Naja, sie hat mich drauf angesprochen und gesagt: ‚Ich dachte, ihr knutscht nur. Ist das noch aktuell, dass du keine Pille willst?‘ – Und ich habe halt gedacht: ‚Was will sie jetzt von mir, ich habe meinen Freund zwei Tage nicht gesehen?‘ – Naja, das Kondom. Lag halt im Müll im Bad. Hab ich ihr halt die Story mit dem Vibrator erzählt.“ – „Und?“ – „Sie hat mir ohne mit der Wimper zu zucken eine Flasche Desinfektionsmittel hingestellt und gemeint: Kannst du auch einfach abwischen. Ist auf die Dauer billiger.“ – „Cool.“
Paula fragte Marie: „Trägst du eigentlich auch Pampers?“ – Marie schüttelte den Kopf. „Nee. Ausnahmsweise vielleicht mal. Bis ich 14 war, hab ich immer welche gehabt, aber seitdem bekomme ich ein Medikament, das die Blase lähmt und muss mich kathetern. Das klappt recht zuverlässig.“ – „Warum nimmst du dieses Medikament nicht, Jule?“
„Ich bekomme das auch. Aber in niedrigerer Dosierung, weil ich die höhere Dosierung nicht vertrage. Da werde ich zittrig, sehe Doppelbilder – geht nicht. Ich bin ja auch relativ dicht, die Pampers ist ja eher eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn ich zu Hause bin oder nur kurze Zeit unterwegs, trage ich auch keine. Und ich muss mich eben nicht kathetern, weil ich die Blase so leer bekomme. Hat alles seine Vor- und Nachteile.“
Paula sagte: „Ich würde ja eigentlich auch gerne mal sowas anziehen. Also nur um zu wissen, wie sich das anfühlt.“ – Emma fielen fast die Augen aus dem Kopf. Marie sagte: „Mach doch. Lass dir von Jule eine geben. Ist aber nicht anders als eine Unterhose. Das einzige, worauf man achten muss, ist, dass man sie richtig zuklebt.“ – Ich grinste. Emma verfiel vor Fassungslosigkeit in ihren bayerischen Dialekt, fragte ihre Zwillingsschwester einigermaßen entsetzt, ob sie jawohl nicht auch noch „einisoacha“ will.
Als wir endlich unterwegs waren, war Emmas erste Bemerkung: „Was gaffen die Leute denn bloß so extrem? Haben die noch nie jemanden im Rolli gesehen oder was? Das ist ja völlig extrem!“ – „Ich habe keine Ahnung, ob das vielleicht daran liegt, dass wir zu viert sind.“ – „Nee, eben als ich alleine mit dem Aufzug vorweg gefahren bin, glotzte auch ein Typ so extrem. Ich hätte am liebsten was gesagt.“ – „Ich merke das schon gar nicht mehr. Ich blende das echt aus. Es kann sogar sein, dass Leute an mir vorbei laufen, die ich kenne, und die ich überhaupt nicht wahrnehme. Oft denken die, ich bin unfreundlich und grüße nicht. Oft nehme ich sie gar nicht wahr.“
Wir fuhren mit der U-Bahn in die City, eierten dort durch die Haupt-Einkaufsstraße. Emma sagte erneut: „Das Gegaffe macht mich aggressiv. Ich kenne das ja von der Uniform her, da gucken ja auch viele. Plötzlich grüßen dich wildfremde Leute. Gähnen ohne Hand vor dem Mund oder in der Nase popeln kann man da nicht so einfach. Aber man kann zur Not wenigstens noch die Mütze weit ins Gesicht ziehen. Aber das hier? Ich komme mir vor wie eine rollende Zielscheibe.“
„Ich stell mir gerade vor, du setzt dir eine Polizeimütze auf und fährst damit im Rolli herum.“ – „Genau. Und dann am besten noch mit Handschellen an den Rollstuhl gefesselt. Und hinten guckt eine Windel aus dem Hosenbund.“ – Marie krümmte sich vor Lachen. Ein Mann fasste ihr von hinten auf die Schulter: „Na, habt ihr auch Spaß? Das finde ich toll.“
Am Jungfernstieg stellten wir uns an einem Eisladen an. Als Emma ihren Eisbecher in der Hand hielt, fragte sie: „Scheiße. Und wie komme ich jetzt vorwärts?“ – Eine Frau: „Ich helfe Ihnen! Soll ich Ihr Eis nehmen?“ – Ich löste die Situation auf: „Hier, halt mein Eis auch und ich schiebe dich.“ – Genauso machten es auch Marie und Paula. Als die beiden im der Abendsonne auf die Binnenalster guckten, meinte Paula: „Hamburg ist schon schön. Irgendwie haben wir noch nicht viel gesehen, aber mir gefällt die Stadt. Ehrlich.“
Als wir wieder zu Hause waren und die zwei überflüssigen Rollis abgestellt hatten, machten wir uns wieder auf den Weg in die Stadt, diesmal zur Sternschanze. Das dortige Schanzenfest wollten die beiden unbedingt erleben, wenngleich der größte Teil des Nachmittags bereits vorüber war. Ein Straßenfest mit vielen Flohmärkten, Musik, Fressmeile zog tausende Leute an. Wir ergatterten sogar noch einen Außentisch in einer der vielen Gaststätten und bekamen noch total leckeres Essen. Die Luft war angenehm warm und wir wären auch gerne noch länger geblieben, nur irgendwann kippte die Stimmung merklich. Nicht unsere, sondern die offensichtlich extra angereister Chaoten, die auf Randale eingestellt waren. Entsprechend machten wir uns vom Acker – gerade noch rechtzeitig, denn kurz danach gab es in jener Straße die erste Messerstecherei.
Am Sonntag haben sich Emma und Paula jeweils ein Fahrrad ausgeliehen. Zu dritt (ich mit meinem Handbike, nein nicht das Rennbike, sondern das zum Vorspannen für den Alltagsrolli) sind wir insgesamt fast 35 Kilometer an der Elbe entlanggeradelt. Es war total toll. Paulas erster Kommentar: „Ohh, Schaaaafis! Und ein schwarzes ist auch dabei!“ – Emma: „Familienzusammenführung.“
Unter anderem kamen wir auch an der Stelle vorbei, an der ich das aktuelle Hintergrundbild aufgenommen habe. Am Montagmorgen sind meine Zwillingshalbschwestern wieder nach Bayern zurückgefahren. Ein weiteres tolles Wochenende ist vorbei.