Big Brother am Pflegebett

Spätestens seit letzter Woche ist ein Thema bei uns in den Wohngruppen gegenwärtig und wird selbst von denen diskutiert, die vorher nichtmal im Entferntesten daran gedacht haben, dass so etwas überhaupt möglich sein könnte: Gewalt in der Pflege.

Ich möchte es einerseits nicht verharmlosen, andererseits aber auch nicht übertreiben. Dass selbst bei uns, wo wir sehr genau hinschauen, wer bei uns einen Job bekommt, und wo wir ein sehr gutes Klima haben, ein gewaltsamer Übergriff auf eine absolut wehrlose Person möglich sein könnte, darf man nicht aus den Augen verlieren; andererseits darf man jetzt auch nicht in Hysterie verfallen.

Es gab in den letzten Tagen und auch heute sehr intensive Diskussionen unter den Menschen, die hier wohnen, und viele konnten eine Forderung nicht oft genug wiederholen: So etwas darf nicht sein. Auch wenn es bei Maria „nur“ zwei Ohrfeigen waren, waren es bereits zwei zu viel.

Gefahr birgt das Vertrauen, das wir alle den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entgegen bringen, die zu teilweise wehrlosen Menschen in die Zimmer gehen und sie teilweise in intimsten Momenten des Lebens begleiten. Das Vertrauen darauf, dass sie mit mir als Mensch würde- und respektvoll umgehen. Fast alle sind sich diesem Vertrauen und ihrer Verantwortung bewusst und machen einen guten Job. Erzwingen kann ich diesen Umgang aber letztlich kaum, auch wenn der Job davon abhängt, findet selbst das schwärzeste Schaf binnen kürzester Zeit eine neue Möglichkeit, Geld zu verdienen. Hinzu kommt, dass bei einer Aussage-gegen-Aussage-Situation die Unschuldsvermutung gilt, also eine Tat beweisbar sein muss. Und der Druck, bei einer fehlgeschlagenen, nicht beweisbaren Meldung weiterhin und vielleicht in noch stärkerem Maße weiteren Übergriffen mit absoluter Machtlosigkeit und Unterlegenheit ausgesetzt zu sein.

Damit stellt sich noch einmal die Frage, ob bloßes Vertrauen neben einer sorgfältigen Auswahl der Mitarbeiter reichen kann. Die Mitarbeiterin eines Vereins, die bei uns heute auf „behördliche Empfehlung“ einen (sehr gut besuchten) Vortrag über das Thema gehalten hat, empfiehlt zusätzlich zu Vertrauen und Auswahl eine Videoüberwachung der Betten und der Bäder.

Ja, richtig gehört und gelesen. Ähnlich wie in Bussen, Bahnen und Tankstellen kann der „Arbeitsbereich“ der Pflegekräfte videoüberwacht werden. Die Daten werden im Dienstzimmer mitgeschnitten und nach 48 Stunden automatisch überschrieben. Jedes Zimmer hat dabei sein eigenes Aufzeichnungsgerät in einem Serverschrank, um an die Aufzeichnungen zu gelangen, ist ein Schlüssel nötig, den die Bewohnerin selbst verwahrt. Somit könne nur sie selbst den Zugriff auf diese Daten freigeben.

Ohne Frage wäre der damit erzeugte Beobachtungsdruck vorbeugend gegen gewaltsame Übergriffe. Allerdings muss man hier klar sehen: Es greift in einem ganz erheblichen Maße in die Intimsphäre des Menschen ein, der dort wohnt. Ich masturbiere im Bett oder in der Badewanne. Vielleicht habe ich mal mit jemandem schmutzigen Sex. Und beim Kacken möchte ich auch nicht gefilmt werden. Auch nicht, wenn man das hinterher rausschneiden könnte.

Solange keine Daten da sind, kann sie auch niemand missbrauchen. Sind sie da, knackt vielleicht irgendeiner, der sowieso schon gekündigt hat, kurz vor seinem Abgang das Schloss und nimmt die Aufzeichnungen an sich. Oder schneidet am vorletzten Tag das Kabel durch und verprügelt mich an seinem letzten Tag nochmal so richtig. Oder klatscht mir zur Begrüßung eine, während ich am Schreibtisch sitze, den die Kamera nicht einsehen kann. Oder irgendein Ferkel zapft die Datenleitung unterwegs an und erstellt sich sein privates Heimkino. Ich halte das auf den zweiten Blick für keine so gute Idee.

Ich weiß aber auch keine gute Lösung. Ich glaube, dass wir zwar schon sehr viel besser dran sind als die Bewohner von geregelten Pflegebetrieben: Wir haben ja die Möglichkeit, die Aufträge (bitte einmal waschen, föhnen, ins Bett bringen) gezielt an einen bestimmten Mitarbeiter zu vergeben. Wer das nicht so macht, wie ich das will, kriegt eben keinen Auftrag mehr. Allerdings darf man dabei auch nicht vergessen, dass gerade Menschen wie Maria ihre Aufträge oft schon zwei, drei Monate im Voraus vergeben. Schließlich brauchen alle eine gewisse Planungssicherheit.

Ein erster Schritt ist sicherlich, offen über das Thema zu sprechen, zu sensibilisieren, hinzuschauen, solches Verhalten klar abzulehnen. Aber der letzte Schritt dürfte es nicht sein.

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