Nachdem ich meine erste Lektion gelernt habe, nämlich dass mein Studium nur durch Selektion, großer Distanz und erheblichem Egoismus durchzuhalten ist, bin ich zur Zeit etwas entspannter. Sätze wie „Prüfung A ist strategisch wichtiger als Prüfung B“, „Nein, ich bin bereits ausgelastet“ und „Was kümmern mich deine Probleme“ gehören üblicherweise nicht zu meinem Repertorium (wie man unschwer erkennt, verdrängt der Überfluss an lateinischen Vokabeln sogar von Zeit zu Zeit mein innig geliebtes Schulfranzösisch). Viel weiter noch: Ich lehne solche Überlegungen, erst recht solche Haltungen, ab und kann mich mit ihnen nicht identifizieren. Sie entsprechen nicht meinem Verständnis vom
gesellschaftlichen Miteinander.
Somit habe ich eigentlich nur drei Möglichkeiten: Die erste wäre, mich gegen meine Überzeugung zu einem anderen Menschen zu entwickeln, der ich, zumindest im Moment, nicht sein möchte. Die zweite ist, mein Studium hinzuschmeißen, wobei ich meinen Kampfgeist allerdings schon vor
meinem inneren Auge sehe, wie er, derzeit noch lässig auf einem Stuhl sitzend und halbinteressiert beobachtend, bereits eine Augenbraue hochzieht und einmal tief seufzt. Und die dritte wäre, mir im Dienste der Wissenschaft eine zweite Persönlichkeit zuzulegen und jeweils für Privat- und Berufsleben hin- und herzuschalten. Ob das allerdings gelingt, ohne dass die beiden Persönlichkeiten in mir sich gegenseitig bekämpfen und ich meinen Blog von „Aus dem Leben einer Stinkesocke“ zu „Aus dem Leben von Jekylline und Hydewitzka“ umbenennen muss, bleibt aktuell unbeantwortet.
Und das ist mal wieder nicht das einzige Schlachtfeld: Dass es in meinem unmittelbaren (magnetischen) Umfeld grundsätzlich immer schräge Vögel geben muss, ist ja inzwischen bekannt. So darf es auch niemanden wundern, wenn auch aus der unüberschaubaren Menge meiner Kommilitonen der eine oder andere Halb- oder Vollhirni es bis zu einer Erwähnung in meinem Blog schafft. Marie ist ja ebenfalls mit einem solchen Magneten ausgestattet, steckt das, genauso wie der Stress des Studiums, aber wesentlich leichter weg und ist auch wesentlich abgebrühter als ich, wenn es darum geht, ihre Stellung zu behaupten. Mir kommt es zumindest so vor.
So sitzen wir in einer „Lerngruppe“ zwischen zwei Vorlesungen in einem mehr oder weniger guten Café der Klinikgastronomie, hinterste Ecke. Neben Marie und mir sind noch vier andere Leute dabei, insgesamt dreimal männlich und dreimal weiblich, also alles gut aufgeteilt. Weil alles sehr eng ist, haben Marie und ich uns auf die vorhandenen Sessel umgesetzt. Marie hat ihre Schuhe ausgezogen und es sich im Schneidersitz
bequem gemacht. Da es nicht sehr warm ist, hat sie sich mit einer Fleecejacke quasi zugedeckt.
Nach etwa einer halben Stunde passiert das, wovor kein Querschnitt sicher ist: Marie pupst. Zwar nicht laut, aber durchaus wahrnehmbar. Sie
sagt: „Oh, tschuldigung.“ Womit das eigentlich erledigt sein müsste. Ist es aber nicht: Der Typ neben ihr beginnt, ihr das Knie zu streicheln
(!), woraufhin Marie, und das meine ich mit der beschriebenen „Abgebrühtheit“ nur keck antwortet: „Was ist denn mit dir los, willst du
mit mir gehen?“
Sowas macht sie, ohne eine Miene zu verziehen und ohne der Situation nach dem Satz noch irgendwie Beachtung zu schenken, geschweige denn eine
Antwort abzuwarten. Ich hätte um ein Haar mein Getränk ausgespuckt und musste mich extrem zusammenreißen, nicht loszuprusten. Der Typ antwortete: „Nein! Ich wollte dir nur sagen, dass du dich nicht schämen musst, das kann doch jedem mal passieren.“
Marie: „Ich weiß, kannst du trotzdem mal mein Knie wieder loslassen?“
Ich gucke Marie mit großen Augen an. Der Typ, seine Hand noch immer an ihrem Knie, fährt fort: „Ich habe gelesen, dass jeder Mensch pro Tag im Durchschnitt sechs Blähungen abgehen lässt. Frauen wie Männer, wobei die Frauen das gerne leugnen, weil es ihnen peinlich ist. Ich finde das toll, dass du einen so offenen Umgang damit pflegst.“
Ich war mir nicht sicher, ob er das ernst meinte, was er da gerade sagte, oder ob er Marie damit bloßstellen wollte. Marie wohl auch nicht,
daher sagte sie: „Ich bin querschnittgelähmt, daher habe ich nur wenig Einfluss, wann das passiert.“
Daraufhin kam der erste Brüller: „Jedenfalls ist mir ein taktvoller Feenfurz lieber als wenn sich eine fette Bache neben mir lautstark irgendwas schwabbelndes in ihren Scheuerschlüpfer presst.“
Und als hätte es noch nicht gereicht, sagte ein anderer Typ und beendete damit unsere kleine gesellige Runde: „Deine Flatulenzpräferenz in allen Ehren, aber weißt du, wo schon der erste Denkfehler ist? Feen sitzen nicht im Rollstuhl, und wenn doch, kennen sie zumindest eine Kollegin, die sie mit ihrem Zauberstab dort wieder rausholt.“