Süß Und Bitter

Zwerge können ganz schön anstrengend sein. Müssen sie aber nicht. Weil man das nie vorher weiß, ist jener bekanntlich gut beraten, der nicht ganz alleine mit einer Kindergruppe loszieht.

In unserem Sportverein gibt es natürlich auch Nachwuchs, und damit sind nicht nur diejenigen gemeint, die frisch mit dem Auto vor einen Baum gefahren oder beim Gerüst aufbauen vom Dach gesegelt sind, sondern auch jene Kinder, die mit einer Behinderung auf die Welt kommen. Entwicklungsstörungen, wie beispielsweise bei der angeborenen Querschnittlähmung, kommen ebenso vor wie Geburtskomplikationen oder Infektionen, aus denen mitunter Hirnschädigungen resultieren. Einige Kinder und Jugendliche aus unserem „Nachwuchs“ brauchen sehr viel Unterstützung, andere weniger.

Gestern war für eine Gruppe, in der acht- bis 14jährige Mädchen und Jungs eher wenig eingeschränkt alle in einer Sporthalle möglichen Ball- und Bewegungsspiele machen, ein Ausflug angesagt. Normalerweise habe ic damit überhaupt nichts zu tun, nur lag ein Trainer mit Rüsselseuche flach und bat mich, ihn kurzfristig zu vertreten. Was ich gerne mache, nicht zuletzt, um die Fünf Freunde auch noch einmal im Kino anzusehen.

Es sollte ein Ausflug ohne Eltern sein. Das war eigentlich im Vorfel geklärt, nur gibt es ja immer wieder anhängliche Muddis, die nicht loslassen können. Und so wurde ich ungewollt Zeugin eines mittelschwere Dramas, als sich nämlich eine Muddi in letzter Sekunde überlegen wollte, ihr Kind, das neben ihr abfahrbereit am Treffpunkt im S-Bahnhof stand, doch wieder mit nach Hause zu nehmen. Ganz ehrlich? Ich verstehe manche Eltern nicht. Die Ansage, dass Eltern nicht mitfahren, kam auch für sie nicht überraschend, nur habe sie gerade eben erst realisiert, was das für sie bedeute. Was es für das Kind bedeutet, hat sie nur anscheinend übersehen, denn das 12jährige Mädchen sah ihre ganzen Freundinnen und Freunde aus der Sportgruppe und sie wäre wohl gleich di einzige, die sich verabschieden müsste.

Selbstverständlich passen wir auf das Kind auf und nein, es passiert nichts schlimmes. Wir haben das im Griff, das Kind ist doch schon groß. Die Übungsleiterin, die die Gruppe auch wöchentlich betreut, nahm die Mutter zur Seite. Nichts zu machen. Offizielle Begründung: Ihr Kind sei hyperaktiv und würde die Kinovorstellung stören. Außerdem müsste es jemanden geben, der mit ihr aufs Klo geht. Und sie dürfe keine Popcorn und keine Cola, denn die machen dick. Und sie könne sich in der S-Bahn nicht richtig festhalten, sie falle um, wenn der Zug bremst und wenn keine Fußgänger dabei seien, wäre auch niemand da, der sie festhalten könnte. Und eigentlich sei „Kino“ für das nächste halbe Jahr mal gestrichen worden, weil sie irgendwas an- oder ausgestellt hätte. Und d platzte der „Kollegin“ der Kragen: „Und dann tauchen Sie hier allen Ernstes mit Ihrem Kind auf?! Jetzt reicht es mir aber gleich. Sie kriegen Ihr Kind fröhlich und in einem Stück heute abend zurück. Das verspreche ich Ihnen. Und jetzt verabschieden Sie sich bitte kurz und schmerzlos und machen sich und uns und vor allem Ihrer Tochter, die sic so auf den Tag gefreut hat, das Leben nicht unnötig schwer.“

Das wirkte; am Ende nahm ein anderer Vater, der seinen Sohn zum S-Bahnhof gebracht hatte, die Mutter in den Arm und ging mit ihr vom Bahnsteig. Erster Satz der Tochter: „Siehste, ich bin hart geblieben un hab sie das Drama machen lassen. Normalerweise sag ich immer, sie kann mitkommen. Aber das kann ja nicht immer so weiter gehen, irgendwann mus sie ja auch mal nicht dabei sein. Sie ist schon bei jedem Schulausflug dabei, fährt bei jeder Klassenfahrt mit, irgendwann ist mal gut.“

Recht so. Die Eltern waren verschwunden, los ging es in Kleingruppen mit dem Aufzug auf den Bahnsteig. Die „Kollegin“ fuhr in der ersten Dreiergruppe mit, die zweite Dreiergruppe fuhr alleine, ich sollte mit dem letzten Mädel hinterher kommen. Klappte alles ohne Probleme. Das Einsteigen in den Zug war auch kein Problem, zu unser aller Freude kam ein Zug mit niedrigem Einstieg auf einer Linie, auf der sonst nur alte Züge mit hohem Einstieg fahren, wo man dann jedem einzelnen eine Hilfestellung geben muss. Aber so haben die Zwerge das ja lange genug auf einem Modell-Parcour geübt, wie ich damals auch, bevor ich das erst Mal mit der S-Bahn fuhr.

Das Mädchen, das die klammernde Mutter zu Hause gelassen hatte, fuhr schnurstraks zu einer Wand, rollte rückwärts mit beiden Rädern dagegen, machte die Bremsen fest legte einen Arm um eine senkrechte Haltestange. Das Kind kann sich nicht halten beim Bremsen?! So ein Blödsinn. Das Mädchen war erwachsener als die Mutter glaubte. Hielt sich fest, beobachtete die Leute und die Gegend, saugte alles auf wie ein Schwamm. Was für eine entspannte Gruppe! Es war zwar viel Geschnatter und Gegacker, aber keiner machte Blödsinn oder wurde anstrengend. Wären sie nicht so unerfahren, hätten sie auch alleine fahren können.

Als wir aus dem Zug ausgestiegen und mit dem Aufzug in Kleingruppen unten angekommen waren, hieß es: „Wir machen jetzt ein Schildkrötenrennen. Das kennen alle vom Sport! Wir müssen über eine gan gefährliche Kreuzung und ihr fahrt bitte alle hintereinander her. Wie ging das noch? Alle passen auf, dass sie den Anschluss nicht verlieren und niemand quatscht. Wenn es dir zu schnell geht, rufst du laut: ‚Langsamer!‘. Wenn du irgendwo hängen bleibst, fahren die anderen trotzdem weiter und drum, Jule fährt als letzte und kümmert sich um all Liegenbleiber. Alles klar? Dann los!“

Es lief vorbildlich. Es blieb niemand am Bordstein oder im Gullydeckel hängen, keiner machte Unsinn, niemand überholte, alle passten auf. Das Manöver „Schildkrötenrennen“ wurde beim Sport unzähliche Male geübt, um den Knirpsen Sicherheit zu geben, wenn sie über einen Fußgängerüberweg, mit Mittelinseln, durch den Abbiegerverkehr, Busspur mittig, Grünphase zu kurz, selbständig fahren müssen. Als letztes Glied der Kette und vom Tempo her eindeutig unterfordert, hatte ich natürlich die Möglichkeiten, nach rechts und links zu blicken. Zehn Leute im Rolli, davon acht Knirpse, teilweise in Kinderrollis, sieht man auch in Hamburg nicht alle Tage. Entsprechend viele Leute blieben stehen und guckten. Allerdings sah diese Übung wohl so gut einstudiert aus, dass niemand ungefragt Hilfe angeboten hat. Sie wäre auch nicht nötig gewesen.

Im Kino klappte der Einlass ohne irgendeinen Zwischenfall. Keine dummen Fragen, kein „das sind aber zu viele Behinderte“ oder ähnliches, sondern einfach nur: „Wir brauchen 10 Karten für Fünf Freunde.“ Häh? Ja Achso. Der Sicherheitsdienst brachte uns mit dem Aufzug zum Popcorntresen oder zum Klo. Das Mädchen mit der klammernden Mutter stupste mich mit ausgestrecktem Finger am Arm an. „Jule, gehst du mit mir aufs Klo? Du brauchst nichts zu machen, aber Mama möchte immer, das jemand dabei ist.“ – Na sicher. So gurkten wir zu zweit in die ausreichend große Behindi-Kabine, ich stellte mich mit dem Rücken zur Tür, sie fing an, sich die Schuhe auszuziehen. Erst ein Fuß auf den Schoß, Schuhband auf, Schuh aus und laut polternd fallen gelassen, dann den zweiten. Dann die Hose über den Po, über die Knie, über die Füße. Der kleine Wurm war schneller als ich. „Hältst du kurz meine Hose fest? Ich will die hier nicht in den Dreck oder ins nasse Waschbecken werfen.“

Unterhose aus, aufs Klo rüber, Einmalkatheter ausgepackt, Spiegel ausgepackt, einen Fuß auf den Rolli gegenüber gelegt, den Spiegel am anderen Bein festgeklettet, Hände desinfiziert, Katheter aus der Folie genommen, Schamlippen mit zwei Fingern gespreizt, im Spiegel den Harnröhreneingang gesucht, Katheter eingeführt, … völlig routiniert und ohne jeden Fehler, insbesondere keine falsche Reihenfolge im Bezug auf den sterilen Katheter. Während ihr Blaseninhalt durch den Katheter ablief, guckte sie mich an. „Glaubst du mir jetzt, dass ich das auch alleine kann?“ – „Äh, ich habe dir das schon die ganze Zeit geglaubt.“

Den Film fand ich recht spannend, allerdings für das freigegebene Alter ziemlich heftig. Nach einer halben Stunde hatte ich plötzlich einen Kopf an meiner Schulter. Das angeblich hyperaktive Mädchen, das sich weder festhalten noch selbst kathetern kann, saß dort völlig entspannt und schaute den Film.

Auch die Rückfahrt verlief ohne jeden Zwischenfall. Kein Chaos, kein dummen Kommentare, alles entspannt. Die Mutter, die bei der Hinfahrt s ein Theater gemacht hat, war inzwischen wieder ruhig. Sie freute sich wie alle anderen auf ihr Kind, nahm es in den Arm („Mama, nicht so doll das ist peinlich!“) und ließ sich erzählen, wie der Film war.

Als ich abends im Bett lag, bekam ich eine SMS. „Hallo Jule, das war so ein schöner Tag heute. Danke für alles. Ich hab dich lieb und möchte gerne deine Freundin sein.“ – Wie süß. Und wie bitter zugleich.

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