Ich liege schlafend in meinem Bett und rede mit einem Zettel. Genauer genommen sogar mit einer ganzen Zettelwirtschaft, die von einer Heftklammer zusammengehalten wird. Die Zettel sind aus Papier und Papie ist geduldig. Geduldig genug, um nicht nur meinen Dialog, sondern auch seine Funktion als Informationsträger fromm zu ertragen. Ich taufe den Zettelkram „Detlef“, weil der Name das Elend für mich einen Moment lang erträglicher macht.
Und ich? Ich bin eine PRM. Nicht zu verwechseln mit RPM, was so viel wie „revolutions per minute“, also Umdrehungen pro Minute, bedeutet. In einem drehfreudigen Tennis- oder Basketballrollstuhl würde ich davon zwangsläufig mehr schaffen, ich schätze mal 50 pro Minute, als in meine möglichst geradeaus rollenden Alltagsstuhl. Aber das ist ja gar nicht das Thema. Es geht nicht um RPM, sondern um PRM. Spucken muss ich trotzdem irgendwie bei beidem.
PRM hat auch mit Rollstühlen zu tun, oft zumindest. PRM sind „people with reduced mobility“, also mobilitätseingeschränkte Menschen. Und in ihrer Mobilität eingeschränkt sind in erster Linie Menschen mit Behinderungen. Wir erinnern uns: Die UN spricht von einer Behinderung, wenn Menschen beispielsweise körperliche Beeinträchtigungen haben, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren die volle und wirksame Teilhabe dieser Menschen, gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft, behindern können.
Das heißt: Es braucht eine körperliche Beeinträchtigung und Barrieren, die sich miteinander so beknackt verzahnen, dass der behinderte Mensch nicht mehr (voll, wirksam oder gleichberechtigt) teilhaben kann. Teilhaben am gesellschaftlichen Leben.
Detlef steht für ein Unternehmen, das Mobilität verkauft. Detlefs Anspruch, Marktführer für die Mobilität von Menschen sein zu wollen, müsste sein Antrieb sein, alle Barrieren bestmöglich aus dem Weg zu räumen, zu kompensieren und künftig zu vermeiden. Damit nicht Detlef derjenige ist, der etwas in die Welt stellt, das mit beispielsweise körperlichen Beeinträchtigungen eines Kunden in Wechselwirkung treten könnte. Was ja peinlich wäre, denn dann könnte dieser Mensch an der von Detlef verkauften Ware, nämlich der Mobilität, nicht voll, wirksam oder gleichberechtigt teilhaben.
Die Mobilität seiner Kunden einzuschränken, wäre mit Sicherheit ein kontraproduktiver Ansatz. Noch kontraproduktiver wäre es aus meiner Sicht, sich mobilitätseingeschränkte Menschen als Zielgruppe zu setzen, damit spezifische Bedürfnisse zu generieren und die strategische Ausrichtung des Unternehmens daran zu orientieren.
Umso erstaunlicher klingt dieser Satz: „Mobilitätseingeschränkte Menschen stellen für unser Unternehmen eine bedeutende Zielgruppe dar. Ihre spezifischen Bedürfnisse werden bei der strategischen Ausrichtung, der Produktentwicklung und der Implementierung von Service jetzt und in Zukunft grundsätzlich berücksichtigt.“
Okay. Nicht jeder PR-Berater ist sein Geld wert und mitunter kann nicht jeder so gut schreiben wie er redet. Oder nicht so gut reden wie er denkt. Manchmal kann aber auch ein PR-Berater nichts mehr ausrichten.
Dann nämlich, wenn Detlefs Fundament schief ist. Und sein Fundament ist in meinen Augen schief, wenn er über die technische Spezifikation für die Interoperabilität bezüglich eingeschränkt mobiler Personen öffentlich referiert und mir im Traum dieses fiktive Interview gibt:
Socke: „Hallo Detlef. Du verkaufst im großen Stil Mobilität. Und du hast erklärt, eine deiner Zielgruppen seien Menschen mit eingeschränkte Mobilität. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?“
Detlef: „Hallo Socke. Ich befördere mobilitätseingeschränkte Menschen gemäß meiner Bedingungen für besondere Personengruppen und hab einen Leitfaden entwickelt, in dem definiert ist, welche Hilfsmittel erlaubt und wie diese zu erkennen sind. In letzter Zeit häufen sich die Anfragen von Mitarbeitern und behinderten Kunden. Es herrscht Unklarhei darüber.„
Socke: „Habe ich das gerade richtig verstanden? Du hast eigene Bedingungen für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt werden, geschaffen? Und du kategorisierst die Hilfsmittel, die sie benutzen, um Barrieren zu überwinden? Und du entscheidest anhand der Hilfsmittel, ob sie deine Dienstleistung in Anspruch nehmen dürfen?“
Detlef: „Bei der Betrachtung einzelner Hilfsmittel hinsichtlich ihrer Beförderungsfähigkeit müssen die genannten Kriterien immer erfüll sein um eine Beförderung zu gewährleisten. Die Gestaltung meiner Verkehrsmittel erfordert eine restriktive Auslegung.„
Socke: „In meinen Augen ist ein Hilfsmittel dafür da, um Barrieren zu überwinden. Oder?“
Detlef: „Hilfsmittel werden nach dem Sozialgesetzbuch (§§ 33, 34 SGB V) als Geräte definiert, die korrigierend, stützend, ausgleichend oder stützend auf die Haltungs- und Bewegungsorgane wirken oder deren einzelne Funktionen ersetzen. Alle folgenden Angaben beruhen auf einer stichprobenartigen Untersuchung des Angebots an Hilfsmitteln.„
Socke: „Das stimmt doch gar nicht. In den genannten Paragrafen des Sozialgesetzbuchs wird das Wort ‚Geräte‘ nicht einmal erwähnt. Im Gegenteil, dort steht, dass Hilfsmittel eine Behinderung ausgleichen sollen. Und wir erinnern uns nochmal: Zu einer Behinderung gehört auch immer eine Barriere. Muss ich davon ausgehen, dass ich als behinderter Mensch zwar bei dir als Kunde herzlich willkommen bin, mein Rollstuhl, mit dem ich mich fortbewege, aber nicht automatisch dabei sein darf?“
Detlef: „Der Rollstuhl ist ein weit verbreitetes orthopädisches Hilfsmittel, das schwerbehinderten Menschen ein mobiles Leben ermöglicht. Hinsichtlich der Beförderung stellen die muskelkraftgetriebenen Rollstühle die geringsten Probleme dar.„
Socke: „Probleme? Ist das nicht ein sehr hartes Wort? Ein Problem wäre für mich ein Aufgabe, deren Lösung mit Schwierigkeiten verbunden ist, ein Hindernis das überwunden oder umgangen werden muss, um von einer unbefriedigende Ausgangssituation in eine befriedigende Zielsituation zu gelangen. Gibt es für dich unlösbare Aufgaben in Bezug auf Hilfsmittel?“
Detlef: „Die Mitnahme eines übergroßen, nicht zusammenklappbaren Rollators muss im Einzelfall, unter Umständen auch erst vor Ort, untersagt werden.„
Socke: „Untersagt?! Da kann derjenige sich dann aber freuen, wenn er auch ein kurzes Stück mit Stöcken laufen kann!“
Detlef: „Die Mitnahme von Gehstöcken und Gehstützen durch ältere, kranke oder behinderte Menschen bereitet im Grundsatz keine Probleme. Sie sind platzsparend und leicht verstaubar. Besondere Vorsicht in Bezu auf sichere Verstauung ist bei Gehstöcken mit drei oder mehr Stützbeinen geboten.„
Socke: „Dann sollte also jeder Kunde, der Hilfsmittel mitnehmen will vorher explizit um Erlaubnis fragen? Das ist ja … Wie gehst du denn damit um, wenn jetzt eine Rollstuhlfahrerin beispielsweise ganz spontan bei dir vorbei kommt?“
Detlef: „Nicht angemeldete Kunden teilen den Mitarbeitern das Gesamtgewicht von Rollstuhl und zu befördernder Person sowie die Länge und Breite des Rollstuhls mit.„
Socke: „Achso. Die weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Ich bin verwirrt. Neue Idee: Wie denkst du darüber, dass jemand mit einem Hilfsmittel ankommt, das nicht offiziell von den Krankenkassen bezahlt wird, ihm selbst aber hilft? Also ich denke beispielsweise an denjenigen, der nur wenig laufen kann und schnell ermüdet und sich beispielsweise auf eigene Rechnung einen Segway besorgt. Gehört das aus deiner Sicht auch zu den Hilfsmitteln?“
Detlef: „Zu den Hilfsmitteln gehören unter anderem Segways.„
Socke: „Da bist du ja sehr modern, wenn du da über den Tellerrand schaust und Segways als Hilfsmittel anerkennst! Das finde ich nun wiederum klasse!“
Detlef: „Segways sind nicht als Hilfsmittel anerkannt.„
Socke: „Äh, wie jetzt? Sie gehören zu den Hilfsmitteln und sind gleichzeitig nicht als solche anerkannt? Wie passt denn das jetzt zusammen? Das ist ja ungefähr so, als wenn deine ‚Bedingungen‘, wie du sie nennst, regeln, dass Rollstühle und andere Hilfsmittel, die unentgeltlich befördert werden, kostenlos befördert werden. Oder?“
Detlef: „Meine Bedingungen regeln, dass Rollstühle und andere Hilfsmittel, die unentgeltlich befördert werden, kostenlos befördert werden, wenn der schwerbehinderte Kunde einen Ausweis vorweisen kann.„
Socke: „Achso. Dann danke ich dir für das Gespräch. Obwohl: Eine letzte Frage hätte ich noch. Wann denkst du darüber nach, das alles mal zu reformieren?“
Detlef: „Mein Programm liegt als überarbeitete Fassung vom März 2012 vor und beinhaltet alle Maßnahmenplanungen bis zum 31.12.2015.„
Oh nein. Jetzt habe ich Detlef im Schlaf zerrissen. Und bin aufgewacht. So ein komischer Traum. So ein rein fiktives Interview, das niemals stattgefunden hat. So viele Sätze, die niemand gesagt hat. Wenngleich ich schon mehrmals gehört habe, dass man im Traum oft Erlebtes irgendwie verarbeitet. Was habe ich denn in den letzten Tagen erlebt?
Ich denke, ich müsste nochmal nachschauen, ob ich im Internet nicht die kursiv gedruckten Passagen irgendwo wiederfinde und dann auch weiß, wohin ich den Detlef stecken muss. Irgendwas mit Mobilität. Da fällt mi ein: Ich wollte meine Bahntickets für das Oster-Trainingslager noch ausdrucken!