Das war mal wieder ein Abend zum Vergessen. Stundenlang, bis spät in die Nacht, sitzen wir in einem Konferenzsaal eines frisch renovierte Verwaltungsgebäudes mit Blick über die Dächer Hamburgs, folgen den Informationen, die man uns zur sportlichen Saison 2013 beziehungsweise 2013/14 geben möchte und lauschen einer angespannten Diskussion über di Vergabe von öffentlichen Geldern. Wollen im Anschluss an den öffentlichen Teil einen Funktionär noch persönlich sprechen und sind, d wir lange warten müssen, ziemlich die letzten, die das Haus verlassen.
Normalerweise halte ich mich von solchen Veranstaltungen fern, nicht zuletzt, weil ich von der ganzen Sportpolitik, die dort und anderswo betrieben wird, nicht genug verstehe, in diesem Fall hatte man mich abe vorher mit den nötigen Informationen versorgt und mich gebeten, vertretungsweise diesen Termin wahrzunehmen, nachdem derjenige, der üblicherweise dorthin fährt, anderweitig im Einsatz war. Ich wurde von Stefanie begleitet, eine Kollegin aus meinem Verein, die wegen einer Muskelerkrankung, bei der die Nervenfasern an den Extremitäten abgebaut werden, beginnend an den Zehen und Fingern und dann immer weiter zum Rumpf fortschreitend, im Rollstuhl sitzt. Das Sprechen ist auch betroffen, sie redet etwas heiser und etwas undeutlich, verwaschen. Stefanie hatte angeboten, mich von zu Hause mitzunehmen und auf dem Rückweg auch wieder dort abzusetzen, da das für sie ohne Umweg möglich ist. Ich habe das angenommen, ist ja nett, wenn ich mal nicht selbst fahren muss.
Wir verlassen also das Verwaltungsgebäude, es regnet mal wieder. Wir rollen zum Auto. Ich setze mich auf den Beifahrersitz ihres Passat Variant um, sie schiebt meinen Rollstuhl leer nach hinten, hebt ihn in den Kofferraum, setzt sich auf die Ladekante um, hebt ihren Rolli in einem Stück daneben und kann dann, wenn auch mühsam, sehr wackelig und mit Festhalten an der Dachreling, bis zur Fahrertür gehen. Schön einen Fuß vor den anderen, die Beine eher aus der Hüfte heraus angehoben … sieht abenteuerlich aus, dauert gemessen am Wetter viel zu lange. In de Moment, wo sie ihre Tür aufmachen will, rutscht sie mit der Hand vom nassen Türgriff ab. Da sie keine vernünftigen Greiffunktionen in den Fingern hat, passsiert sowas halt mal. Der Schwung, den sie eigentlich zum Öffnen der Tür verwenden wollte, reicht diesmal aus, um sie umzuwerfen. Bevor ich auch nur irgendwas denken kann, klatscht sie einmal lang hin und liegt bäuchlings auf dem nassen Asphalt.
Super. Nun konnte ich ja schlecht ihre Tür öffnen, nicht dass ich ih die noch gegen den Kopf schlage. Sie bekommt sich aber relativ schnell wieder so gedreht und sortiert, dass sie sich auf den Po setzen und an die hintere Tür lehnen kann. Ich lehne mich mit dem Oberkörper auf den Fahrersitz rüber, öffne vorsichtig die Fahrertür und frage, ob alles in Ordnung sei. Sie antwortet: „Alles okay, bin nur abgerutscht. Einmal schön mit dem Gesicht in ein paar Scherben, aber zum Glück hab ich mich nicht verletzt. Die Hände bluten auch nicht, alles ist gut. Kannst Du mal gucken, unter deinem Sitz in der Schublade müsste ein Müllsack sein kannst du den mal auf meinen Sitz legen, dass ich das nicht alles einsaue? Und im Handschuhfach ist eine Box mit Papiertüchern, die hätte ich auch gerne mal.“
Ein Mann kommt angelaufen. Er hatte den Sturz gesehen und war mit seinem Auto angehalten, hält einen Schirm über Stefanie. „Kann ich Ihne helfen? Ich möchte Sie nicht einfach so anfassen.“ – „Danke, das ist auch nicht nötig, ich komme alleine ins Auto. Ich bin am Türgriff abgerutscht.“ – „Aber sie wollen jetzt nicht so fahren, oder?“ – „Das geht schon.“ – „Sie können so nicht fahren.“ – „Das ist wirklich kein Problem. Ich mach mich gleich noch etwas sauber und bis dahin habe ich mich von dem Schreck wieder erholt.“ – „Ich halte das wirklich für kein gute Idee. Soll ich nicht lieber einen Krankenwagen rufen?“ – „Nein, bloß nicht, das ist okay so, ich bin nicht verletzt, ich habe mich nur etwas erschrocken. Vielen Dank.“ – „Na wie Sie meinen.“
Stefanie machte die Autotür zu. Sie sah aus wie ein Erdferkel. Ich machte ihr mit den Papiertüchern das Gesicht und die Hände sauber, tupfte den gröbsten Schmutz von den Ärmeln der Jacke und ihren Knien ab dann fuhren wir los. Das Auto des Mannes, der ihr geholfen hatte, stan noch immer mit Warnblinklicht am Straßenrand. Stefanie sagte erstmal kein Wort, ich habe sie in Ruhe gelassen, schließlich konnte ich mir vorstellen, wie genervt sie war. Das erste, was sie wieder sagte, war: „Der Typ fährt hinter uns her.“ – Ich drehte mich um. Das stimmte, aber es war eine achtspurige Straße, vier Spuren pro Richtung, vermutlich hatte er einfach denselben Weg.
Wir bogen ein paar Mal ab, fuhren am Hauptbahnhof vorbei, über eine Brücke. Ich fragte: „Und, ist er noch immer hinter uns?“ – Stefanie nickte. Auf Höhe der nächsten großen Kreuzung wurde Stefanie plötzlich langsamer und hielt sich rechts. Ich fragte: „Was nu?“ – Sie antwortete: „Lalülala von hinten.“ – Ich drehte mich um, unser „Verfolger“ war immer noch hinter uns. Ein VW-Bus kam mit Blaulicht die Straße entlang gefahren. Stefanie wollte den VW-Bus passieren lassen, doch der wurde langsamer, fuhr in Schrittgeschwindigkeit an uns vorbei und scherte schräg vor uns ein, blieb stehen. Stefanie fragte erstaunt: „Und was soll das jetzt?“
Der Fahrer stieg aus, ging zu Stefanies Fenster und sagte: „Guten Abend! Würden Sie mal ganz kurz den Motor ausmachen, bitte?“ – „Klar. Und was soll das werden?“ – „Ganz kurz warten, bitte.“
Wir warteten. Zwei, drei Minuten, dann kam von vorne ein weiterer Streifenwagen, diesmal eine E-Klasse-Limousine. Auch mit Blaulicht. Und keine dreißig Sekunden später noch eine von hinten. Die Beamten stiegen aus, unterhielten sich mit den Beamten aus dem VW-Bus. Die sagten: „Wir hatten das mitbekommen und haben das Fahrzeug zufällig gesehen und sofort gestoppt. Mehr haben wir noch nicht veranlasst.“
Erst jetzt wurde mir klar, dass es tatsächlich um uns oder zumindest Stefanies Fahrzeug ging. War sie ohne Licht gefahren? War das Fahrzeug defekt? Als gestohlen gemeldet? Beschädigt worden, und wir hatten das beim Einsteigen im Dunkeln nicht gesehen? Hatte sie irgendwen geschnitten, übersehen oder was auch immer? Aufgefallen war mir nichts, nur dass dieser Mann, der Stefanie den Schirm über den Kopf gehalten hatte, uns hinterher fuhr und auch immernoch hinter uns stand. Dieser Mann war dann auch des Rätsels Lösung. Ein Streifenpolizist aus der ersten E-Klasse stellte sich vor und sagte: „So, die Kollegen der Bundespolizei hatten Sie eben angehalten und gebeten zu warten. Die Kollegen hatten eine Fahndungsmeldung unserer Leitstelle mitbekommen un Sie sind zufällig direkt an deren Streifenwagen vorbei gefahren. Ich hätte gerne mal Ihren Ausweis und Ihren Führerschein und die Zulassungspapiere des Fahrzeugs gesehen.“
Ich kam mir vor wie in einem schlechten Krimi. Stefanie war kreidebleich und stammelte: „Können Sie mir mal erklären, was hier los ist?“ – „Ja, sofort“, antwortete der Beamte. Ich bekam Stefanies Portmonee in die Hand. „Kannst du das da mal bitte rausfummeln?“
Ohne Fingerfunktion geht das schlecht. Bevor ich was machen konnte, sagte der Polizist: „Geben Sie mal her, bitte. Sind die Papiere da drin?“
Ich gab das Portmonee raus und Stefanie sagte: „Können Sie mir jetzt bitte sagen, worum es geht?“
„Ja, sofort. Ausweisen müssen Sie sich so oder so. Eine Frage noch: Haben Sie vor Fahrtantritt Alkohol getrunken oder Medikamente eingenommen?“
Stefanie verneinte das. Der Polizist hatte seine Taschenlampe in der Hand und versuchte gleichzeitig, die Papiere aus Stefanies Portmonee zu holen. Als er endlich so weit war, sagte er: „Sie sind angehalten worden, weil wir den Verdacht haben, dass Sie alkoholisiert Auto fahren Sie riechen auch ein wenig nach Alkohol, oder? Das Fahren unter Alkoholeinfluss wäre mitunter eine Straftat, also muss ich Sie darüber belehren, dass Sie keine Angaben vor der Polizei machen müssen, mit denen Sie sich selbst belasten würden. Möchten Sie was dazu sagen?“
„Ich hab nichts getrunken“, antwortete Stefanie. Der Polizist sagte: „Sind Sie mit einem freiwilligen Atemalkoholtest einverstanden?“
„Sicher“, antwortete Stefanie. Und fuhr fort: „Dass ich ein wenig undeutlich rede, liegt an meiner Behinderung. Und dass ich nach Bier rieche, muss daran liegen, dass ich vor meinem Auto gestürzt bin beim Einsteigen. Das liegt aber auch an meiner Behinderung.“ – Der Beamte sagte: „Ja ja, das wird sich alles aufklären. Können Sie einmal mit zum Streifenwagen kommen?“
„Dann müsste ich erstmal meinen Rollstuhl aus dem Kofferraum holen“, antwortete sie. Der Polizist sagte: „Dann machen wir das anders. Können Sie sich mal bitte seitlich auf ihren Sitz setzen, die Füße nach draußen?“ – Er öffnete die Tür, gab ihr ein Gerät in die Hand und sagte: „Tief Luft holen, das Mundstück mit den Lippen fest umschließen und so lange in das Gerät pusten, bis das akustische Signal aufhört.“
Wie zu erwarten war: Null Komma Null. Der Polizist staunte, zeigte das Ergebnis seinem Kollegen, der direkt daneben stand. Der zog die Augenbrauen hoch. Dann sagte er: „Können Sie uns bitte nochmal erklären warum Sie nach Alkohol riechen?“ – „Darf ich meine Jacke eben ausziehen? Die riecht nach Bier, vermutlich habe ich mich in irgendwas reingepackt, als ich gestürzt bin. Ich bin auf dem Weg vom Kofferraum zur Fahrertür abgerutscht und gefallen und vermutlich war da irgendwas ausgekippt. Ich bin Rollstuhlfahrerin und kann nicht richtig laufen wegen einer Behinderung. Und deswegen spreche ich auch etwas undeutlich.“
„Haben Sie einen Schwerbehindertenausweis dabei?“ – „Ist mit in dem Portmonee.“ – „Das Auto ist umgebaut, oder?“ – „Ja, ich fahre nur mit den Armen und dem Kopf.“ – „Mit dem Kopf?“ – „Ja, blinken tu ich zum Beispiel mit dem Kopf, weil ich keine Fingerfunktionen habe. In der Kopfstütze ist eine Wippe eingebaut. Wenn ich mit dem Kopf links gegen die Kopfstütze drücke, blinkt es links und wenn ich rechts gegendrücke, blinkt es rechts, und wenn ich das wieder in die Mitte drücke, geht der Blinker aus.“
„Der Herr hinter Ihnen hat offenbar beobachtet, wie Sie gestürzt sin und dachte, Sie wären alkoholisiert. Deswegen hatte er die Polizei gerufen.“ – „Der hatte mir doch noch wieder hoch geholfen. Da hätte er doch fragen können. Außerdem stand ich auf einem Behindertenparkplatz.“ Der Polizist antwortete: „Zusätzlich riechen Sie nach Alkohol und, ohn Ihnen zu nahe treten zu wollen, reden undeutlich. Bedenken Sie, dass Ihr Verhalten dem Mann merkwürdig vorkommen musste. Sie können ihm daraus keinen Vorwurf machen. Es hat sich ja nun geklärt.“ – „Heißt das wir dürfen weiterfahren?“ – „Es gibt keinen Grund, Sie länger aufzuhalten. Oder, Moment, der Herr möchte Ihnen noch was sagen?“
Der Mann stand plötzlich neben uns und sagte: „Das ist mir sehr unangenehm. Ich bitte Sie tausend Mal um Entschuldigung. Ich dachte wirklich, Sie wären sternenhagelvoll. Da habe ich einen richtigen Bock geschossen.“ – Stefanie sagte: „Kann ich jetzt zwar nicht so ganz nachvollziehen, aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich täglich mit mir selbst zu tun habe und Sie nicht. Entschuldigung ist akzeptiert dürfen wir dann jetzt endlich weiter? Ich möchte duschen.“
Die nächsten fünf Minuten bis zu meiner Haustür sagte keiner auch nu ein Wort. Erst als der Motor aus war, nahm Stefanie ihre Hände vor das Gesicht und blieb einige Sekunden so sitzen, rieb sich die Augen. Dann schaute sie mich völlig fertig an. Ihr erster Kommentar, kopfschüttelnd: „Mir ist ja schon viel passiert. Aber sowas? Das glaubt uns kein Schwein.“