Warum es am Montagabend mal wieder ein Gyrosbaguette gab, muss inzwischen allen Menschen, die mich kennen, klar sein. Fünf Jahre (hey, eine runde Zahl!) ist es jetzt her.
Dieses Mal war schönstes Sommerwetter in Hamburg, abends um 22 Uhr konnte man noch im T-Shirt draußen umher fahren. Viel hat sich nicht verändert in Wandsbek Gartenstadt – der Heli stand bereits zur Nachtruhe vor seinem Hangar.
Ich habe in diesem Jahr zum ersten Mal nicht geweint. Ja, ein mulmiges Gefühl war da, ein sehr nachdenkliches, aber irgendwie war es in diesem Jahr nicht so emotional wie sonst. Das kann viele Gründe habe und ich möchte das gar nicht bewerten. Vielleicht hatte ich dieses Mal auch einfach nur noch genug Glückshormone vom Wochenende im Blut.
Bis zu dem Moment, in dem sich ein alter Mann in der U-Bahn in meine Nähe auf einen Sitz setzte. Er war sehr ordentlich gekleidet, sogar mit Krawatte und polierten schwarzen Schuhen. Ich schätzte ihn auf etwa 80 Jahre. Er deutete auf meine Beine oder meinen Rollstuhl und sprach mich an: „Darf ich fragen, wie das passiert ist?“
Ich antwortete: „Verkehrsunfall. Ich bin von einem Auto angefahren worden.“
Der Mann war sichtlich mitgenommen. Er sagte: „Wie schrecklich. Wie lange sitzen Sie schon im Rollstuhl?“
Ich musste schlucken. Und antwortete: „Der Unfall war heute genau vor fünf Jahren.“
Der Mann sagte: „Dann waren Sie damals noch ein Kind.“
Ich antwortete: „Ja, ich war auf dem Schulweg, als eine Autofahrerin mich erfasst hat. Auf einem Fußgängerüberweg.“
Der Mann fragte weiter: „Hatten Sie grün?“
Ich antwortete: „Ja. Ich selbst erinnere mich nicht mehr, aber es gibt Zeugen, die sagen, dass ich grün hatte. Die Unfallfahrerin ist daraufhin rechtskräftig verurteilt worden, sie trägt die volle Schuld a dem Unfall.“
Der Mann fing an zu erzählen: „Wissen Sie, auch wenn das vielleicht etwas zynisch klingt, aber zumindest konnten Sie das Kapitel beenden. Ich habe 1975 meine beiden Töchter verloren. Sie wollten in den Urlaub fahren und sind nie zurück gekommen. Achtundzwanzig Jahre lang haben meine Frau und ich auf sie gewartet. Dann bekamen wir Gewissheit, man hatte DNA-fähiges Material aus ungeklärten Kriminalfällen mit neuen Methoden untersucht. Wie und warum meine Töchter starben, konnte uns bi heute niemand sagen. Kurz nachdem wir wussten, dass sie tot sind, starb meine Frau. Heute auf den Tag genau vor 10 Jahren.“
Jetzt konnte ich meine Tränen doch nicht mehr zurück halten. An jede anderen Tag hätte mich das vielleicht sehr mitgerissen, aber so …
Ich versuchte, mich zusammen zu reißen und stellte ihm eine ablenkende Frage: „Verraten Sie mir, wie alt Sie sind? Ich weiß, dass das etwas ungehörig ist, aber als Sie 1975 erwähnten, haben Sie mich neugierig gemacht.“ – „Wie alt schätzen Sie mich denn?“
Ich dachte an 80 bis 85, wollte etwas schmeicheln und sagte: „Ich hoffe, es ist keine Beleidigung, wenn ich 80 sage.“
Er antwortete: „Das Alter kann mich nicht mehr beleidigen. Ich werde in diesem Monat 96 Jahre alt. Wenn der da oben es so will.“
Da habe ich mich wohl etwas verschätzt. Der gute Mann lud mich zu seinem Geburtstag ein. Er sagte: „In meine Wohnung kommen Sie nicht. Da müssen Sie eine Treppe rauf. Aber wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen die Alster von einer Seite, wie Sie sie noch nie gesehen haben. Und bringe eine kleine Flasche Sekt und zwei Gläser mit. Werden Sie da sein?“