Es war eine total seltsame Einladung. Von einem Mann. Zu einem Rendezvous. An seinem Geburtstag. An seinem 96. Geburtstag.
Die Rede ist nicht von Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, der wird heute „erst“ 95. Und der lädt mich auch nicht zu seinem Geburtstag ein. Ich wünsche mir dennoch, dass er wieder völlig gesund wird. Nein, ich rede schreibe über einen Menschen, den ich vor einer Woche zufällig in der U-Bahn getroffen habe; mit dem ich ins Gespräch gekommen bin und der mich zu seinem gestrigen 96. Geburtstag eingeladen hat. „Ich zeige Ihnen die Alster von einer Seite, wie Sie sie noch nie gesehen haben“, sagte er.
Ich war sehr gespannt, ob er überhaupt auftauchen würde. Aber er tauchte auf. Zur verabredeten Zeit am Fähranleger Jungfernstieg, um mit der Stinkesocke eine Fahrt durch die Alsterkanäle zu machen. Ich hatte mich trotz der Hitze etwas aufgebrezelt und hatte ihm auch einen Topfkuchen gebacken. Und er hatte tatsächlich zwei Gläser und eine Piccolo-Flasche Sekt dabei. Dass wir eine Alsterrundfahrt machen, hatte er zwar vorher nicht verraten, ich konnte es mir aber denken.
Obwohl ich Hamburgerin bin, habe ich so etwas noch nie zuvor gemacht. Auf der Elbe, ja, aber auf der Alster? Nein, und schon gar nicht durch die Alsterkanäle. Spannend, vor allem hätte ich nicht vermutet, unter welcher Armut einige Hamburgerinnen und Hamburger leiden müssen. Die Alsterkanäle sind zeitweise von pompösen Villen mit riesigen Grundstücken gesäumt.
Aber noch interessanter waren die Geschichten des Geburtstagskindes. Ich habe zwei Stunden lang fast nur zugehört. Und mir erzählen lassen von einem Leben, das nach einem Weltkrieg begann, durch eine Kindheit und Jugend im Nazi-Deutschland geprägt wurde, seine besten Jahre an einen weiteren Weltkrieg mit einer Flucht aus Pommern, einem das ganze weitere Leben belastende Trauma der Dresdner Bombennacht, einhergehend mit dem Verlust fast aller Familienangehörigen, verloren hatte. Und dass er erst Anfang der 60er-Jahre, als er bereits Mitte 40 war, zu einem halbwegs geordneten Alltag zurückgefunden hatte. Dass er mal Buchbinder gelernt hat, später in einer Werft und ganz zuletzt im Finanzamt gearbeitet hat. Dass er früher als Taxifahrer das nötige Kleingeld hinzuverdient hat und dass er ein großer Fußballfan war.
Und dass er eine Schwäche hat für junge, schöne Frauen. Eine habe ihn vor etwa 10 Jahren beinahe um sein ganzes Erspartes gebracht. Zum Glück habe er ihre krumme Tour noch rechtzeitig bemerkt, so dass sich der Schaden in Grenzen hielt. Ein aufmerksamer Mitarbeiter der Bank habe sich über eine Vollmacht hinweg gesetzt und zunächst mit ihm telefoniert, als sie ihm das Konto leerräumen wollte. Von einem anderen Konto habe sie aber bereits Geld abgehoben und das habe er auch in eine späteren Verfahren nicht zurück bekommen, da er nicht beweisen konnte, dass sie es nicht nehmen durfte. So etwas zu hören, macht mich immer wieder traurig. Wie können Menschen nur so egoistisch und kalt sein?
Ich glaube, er hat einfach niemanden zum Quatschen. Oder vielleicht auch einfach nicht genug Leute zum Reden. Eine so lange Lebensgeschichte will oft und lange erzählt werden. Er hat mich zum Abschied umarmt und mir auf die Schulter geklopft. Ob wir uns noch einmal sehen werden, weiß ich nicht. Er könnte mich per Post erreichen, wenn er das wollte. Ich glaube, ihm hat es gut getan. Dass ihm jemand einen Topfkuchen backt, und dass ihm jemand zwei Stunden lang aufmerksam zuhört. Und mit ihm einen Sekt trinkt – ich glaube, ich war noch nie so breit nach einem halben Glas Sekt wie gestern. Muss an der Wärme liegen. Abends ging es wieder – nach mindestens drei Litern Wasser und Tee und einem halbwegs auf Zimmertemperatur abgekühlten Kopf. Aber schön war es. Und sehr interessant.