Snaptrash

Es wird immer schlimmer. Der Trend war schon lange zu erkennen, aber bisher sind wir davon einigermaßen verschont geblieben. In diesem Sommer ist die Seuche auch über uns hereingebrochen und hat einen wahrscheinlich nicht mehr zu reparierenden Schaden angerichtet. Gemeint ist ein immer mehr dominierender Lifestyle, der sich aus cooler Unverbindlichkeit, umwerfender Unzuverlässigkeit, kopflos-giftigem Egoismus mit einer Spur Überheblichkeit und einer Prise Kaltschnäuzigkeit definiert, sich mit einer scheinbar feuerfesten Immunität aus souverän gefühlsloser Logik verteidigt und notfalls auch keine Scheu hat, sich mit unfairer Unehrlichkeit und verleugneter Ignoranz zu verteidigen.

Gemeint ist damit keineswegs, dass es Menschen gibt, die nicht wissen, was ein Kalender oder eine Uhr ist, und die ständig ihre Termine und Aufgaben verschusseln. Gemeint sind auch nicht die chronischen Zuspätkommer oder diejenigen, die sich immer mehr vornehmen als sie eigentlich schaffen können und dadurch wiederholt Verabredungen absagen. Gemeint sind ganz klar diejenigen Menschen, die sich vordergründig immer, aber hintergründig nie verbindlich festlegen, die sich immer alle Optionen bis zur letzten Minute offen halten, um sich am Ende das für sie Beste herauszupicken, die keine Verantwortung übernehmen und sich vor jeder Aufgabe bis zum Aschermittwoch drücken. Die aber auch weder Klartext reden noch „Nein“ sagen können, sondern die hoffen, berechnen und kalkulieren, um nach Schließen des letzten Schotts im richtigen Rau zu sein. Und die dann, wenn sie es geschafft haben, cool bis hämisch grinsen; und wenn sie es nicht geschafft haben, sofort in eine Opferrolle schlüpfen.

Einer meiner Professoren hat dieses Phänomen mal als „Snaptrash“ bezeichnet. Menschen unter 25 Jahren seien derzeit am meisten von dieser unrühmlichen Termin-Schnäppchenjagd betroffen. Und inzwischen versteht ihn, glaube ich, niemand so gut wie ich.

Ich gehörte auch in diesem Jahr wieder zu einem Viererteam, das eine Sommerfreizeit an der Ostsee organisiert hatte. Für maximal 30 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, hauptsächlich mit Behinderungen und hauptsächlich aus Familien, die nicht verreisen können. Wie schon seit vielen Jahren unterstützt sowohl die Stadt aus einem Fördertopf als auch ein mittelständisches Unternehmen aus dem Hamburger Umland diese insgesamt rund 10.000 Euro teure Maßnahme, damit wirklich niemand zu Hause bleiben muss. Die „Betreuerinnen“ und „Betreuer“ verzichten auf jede Vergütung (müssen allerdings auch nichts bezahlen), und wer finanziell leistungsfähig ist, muss 300 € zahlen. Wer nicht, bekommt (gestaffelt nach Einkommen) bis zu 262 € Zuschüsse. Jahrelang war diese Sommerfreizeit ein toller Erfolg.

Für dieses Jahr hatten wir die Unterkunft bereits im März 2012 gebucht und am 31. Mai 2013 endete die Anmeldefrist innerhalb des Vereins, um sich bei dieser Freizeit anzumelden. Insgesamt lagen dreißig Anmeldungen vor und weitere elf waren auf der Warteliste. Und wie immer: Bis zum Anmeldeschluss hatten nur acht ihre Teilnahmegebühr bezahlt. Zwei weitere hatten die nötigen Zuschüssanträge ausgefüllt und ihren Anteil überwiesen, insgesamt waren also gerade mal zehn Anträge komplett. Also haben wir am 1. Juni die verbliebenen 20 Leute angeschrieben, was von ihnen noch fehlt und dass ihre Anmeldung in eine Woche storniert wird, wenn nicht gezahlt oder alternativ der Antrag auf Unterstützung ausgefüllt wird. Daraufhin hat noch eine Mutter sich telefonisch entschuldigt, die Überweisung habe aus ihr unerklärlichen Gründen nicht geklappt. Damit waren elf Personen verbindlich angemeldet neunzehn Anmeldungen wurden storniert und die elf auf der Warteliste rückten nach.

Die neunzehn stornierten Leute bekamen Post, dass sie sich nun auf die acht noch freien Plätze erneut bewerben könnten. Wie immer gilt der Teilnehmer als gesetzt, der zuerst alles komplett eingereicht und bezahlt hat. Gleichzeitig fand noch ein Planungs- und Infotreffen statt zu dem alle Teilnehmer und die Interessierten eingeladen waren. Es wurde natürlich gleich auf der Einladung dazu fett darauf hingewiesen, dass wir bei diesem Treffen kein Bargeld annehmen können (und wollen), und alle Zahlungen über das Vereinskonto laufen müssen. Von den 41 gesetzten oder interessierten Teilnehmern waren gerade mal zehn da, vier davon hatten 300 Euro dabei (und wollten nicht verstehen, warum wir nun kein Bargeld annehmen), zwei andere pöbelten rum, weil sie angeblich zu Unrecht wieder aus der Liste gestrichen wurden und das Procedere nicht schlüssig sei. „Gleich hier die Anmeldung nochmal ausfüllen und morgen das Geld überweisen, dann ist doch alles in Butter“, meinte meine Kollegin. Und die anderen Leute wollten lediglich in Erfahrung bringen, ob es für sie Sonderregeln geben könnte: Ich möchte im Einzelzimmer schlafen, darf ich auch drei Tage später an- und zwei Tage früher abreisen, darf ich zwischendurch einen Tag nach Hause, dürfen meine Eltern mich zum Grillabend besuchen und mitessen, …

In den darauf folgenden Tagen ging natürlich keine weitere Anmeldung ein. Von den elf nachgerückten zahlten zwei, fünf reichten einen Zuschussantrag ein. In den folgenden Tagen sagten dann noch sechs wieder ab, weil sie doch lieber mit den Eltern verreisen, zu Omas Geburtstag oder die Zeit im Garten verbringen wollten. Davon einige, für die die Stadt und der private Sponsor die Kosten (bis auf 38 €) übernommen hatten. Klar, dass diese Familien dann eine Rechnung über 250 Euro Stornogebühren bekommen haben, wie vorher schriftlich vereinbart. Schließlich müssen wir für das leer bleibende Bett in der Unterkunft zahlen. Auch dagegen wurde natürlich erstmal wieder Krach geschlagen, angeblich sei das schlecht erklärt gewesen.

Am Ende haben wir die komplette Veranstaltung abgesagt, denn von den zuletzt zwölf verbliebenen Leuten wurden dann noch vier weitere kurzfristig abgeworben. Sie wollten dann lieber an einer anderen, alternativen Minifreizeit teilnehmen, die die Eltern eines der Teilnehmer organisiert hatten, der kurz zuvor wegen des Geburtstags seiner Oma bei uns wieder abgesagt hatte. Die vier bekamen dann auch nochmal je eine Rechnung über 250 € Stornogebühren, und die verbliebene acht, die natürlich unglaublich traurig waren, bekamen ihre 300 € wieder erstattet. Die noch nicht abgerufenen Gelder der Stadt wurden wieder freigegeben und dem Sponsor mussten wir mitteilen, dass dieses Jahr die Freizeit mangels Interesse ausfällt – woraufhin er uns erzählte, dass ihn in der letzten Zeit drei Leute angerufen haben; eine wollte, dass er auch noch die 38 € Eigenanteil übernimmt, einer wollte zu seinen 300 € einen direkten Zuschuss von ihm und ein Elternteil wollte wissen, ob er nicht die alternative Freizeit mit den üblichen 1.500 €, die er sonst an unseren Verein zahlt, lieber direkt unterstützen könnte.

Den Vogel abgeschossen hat allerdings eine Mutter, die in einem Werbevertrieb arbeitet und für ein Anzeigenblatt eine Werbeanzeige verkaufen wollte – und dafür auch bei diesem Unternehmen anrief und sich bis zum Chef durchstellen ließ. Für einen Freundschaftspreis von 500 € könne man eine ganze Seite in einem Anzeigenblatt zur Verfügung stellen für einen Fototext über diese Freizeit, in dem das unterstützende mittelständische Unternehmen mehrmals erwähnt werde… Der Sponsor signalisierte bereits, dass er im kommenden Jahr für unsere Freizeit eher nicht mehr zur Verfügung steht, sondern lieber andere tolle Projekte unterstützen wird.

In den Tagen nach der Absage bekamen wir jeder Menge Kritik zu hören und zwar in erster Linie von denjenigen, die Stornogebühren zu zahlen hatten. Danach sei das ganze Procedere nicht verständlich beschrieben worden, Zahlungen nicht angekommen, weil ein Zahlendreher in der Überweisung war, Mails nicht angekommen, mit denen man die Anmeldung schon vor Anmeldeschluss angeblich selbst storniert hatte – und überhaupt sind ja alle so arm und unser Verein so unsozial hart. Außerdem sei diese Organisationsform nicht mehr zeitgemäß: Heutzutage müsse man spontan sein.

Was solls. Marie und ich haben uns für zwei Tage am Ostseestrand verabredet und alle interessierten Leute spontan zwei Tage vorher eingeladen. Fast zwanzig hatten Lust. Könnt ihr für uns Grillfleisch mit einkaufen? Ich geb euch das Geld vor Ort wieder. Hast du noch einen Platz frei im Auto? Kannst du mich vor Ort kurz vom Bahnhof abholen? Darf ich meine Freundin mitbringen?

Mitgefahren sind am Ende nur Maries Eltern – spontan…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert