Nach einem sonnigen, fast schon tropischen Wochenende komme ich braun gebrannt vom Strand zurück. Als ich gestern abend in meinem Bett lag, spürte ich noch immer die Wellenbewegungen des Meeres in mir … es war absolut fantastisch. Nachdem ja eigentlich eine Freizeit geplant war und nachdem ja eigentlich fast zwei Dutzend Leute zu diesem alternativen Wochenende mitfahren wollten, war es am Ende mit Maries Eltern wie immer sehr entspannt. Wir hatten zwei große Luftmatratzen für das Wasser dabei und bei schräg auflandigem Wind und Wellen, die auch fünfzig Meter vor dem Strand bereits teilweise Schaumkronen trugen, klopfte mein Meerjungfrauenherz natürlich deutlich schneller. Außerdem sind Marie und ich ein paar Mal mit einem Kajak gefahren, das man sich dort für vier Euro pro Stunde mieten konnte. Wir waren an unserem Strandabschnitt vielleicht fünfzig bis einhundert Leute, mussten vom Parkplatz keine hundert Meter zum Wasser rollen und hatten für meinen Geschmack perfekte Bedingungen.
Mit den Rollstühlen konnte man über einen befestigten Weg aus Holzbohlen fahren, das letzte Stück zum Wasser krabbelten wir durch den Sand, nachdem wir die Stühle am Ende des Holzweges abgestellt hatten. Selbstverständlich so, dass sie niemanden störten. Ein wenig traurig, dass es mit der Kinder- und Jugendfreizeit nicht geklappt hatte, war ich zwar, allerdings hatten wir plötzlich, am Nachmittag des ersten Tages, eine Jugendgruppe aus vierzehn- bis fünfzehnjährigen Leichtathletinnen und Leichtathleten um uns herum, die ebenfalls ein Sommerwochenende am Strand verbringen wollten. Sie schliefen in einem Mannschaftszelt auf einem nahe gelegenen Campingplatz und kamen plötzlich mit der Frage auf uns zu, ob wir beim Beachvolleyball mitmachen wollten. Zuerst verneinte wir das, dann meinte aber einer der Trainer: „Wir haben uns überlegt, wir könnten das doch alle im Sitzen machen. Ist mal was anderes, also quasi Sitzvolleyball.“
So haben Marie und ich bestimmt zwei Stunden lang mit den Jugendlichen eine Art Beach-Sitzvolleyball gespielt, was sehr gut klappte und uns etliche Dutzend Zuschauer, die am Rand standen und begeistert mitfieberten, Punkte zählten und immer wieder klatschten, bescherte. Zwei ältere, braungebrannte Männer rannten jedes Mal dem Bal hinterher, wenn er aus dem Spielfeld ging und weiter wegflog, einige völlig fremde Leute und auch etliche Kinder und Jugendliche, die mit der Gruppe nichts zu tun hatten, ließen sich reihum immer mal wieder einwechseln. Natürlich ist Sitzvolleyball günstig für Menschen, denen untere Gliedmaße fehlen, aber man kann es natürlich auch als nicht behinderter oder querschnittgelähmter Mensch spielen.
Am Abend wollten wir grillen. Maries Papa hatte für unser Abendessen einen Campinggrill mitgenommen. Den er allerdings im Auto lassen konnte da uns diese Jugendgruppe spontan angeboten hat, unser Fleisch und unsere Würstchen mit auf deren großen Grill zu legen. Die Gruppe hatte Tische und Bänke am Strand aufgestellt und einen großen Schwenkgrill aufgebaut. Bevor es losgehen konnte, kam jemand vom Ortsamt, der sich das alles anschaute, eine Genehmigung sehen wollte, dann aber viel Spaß wünschte und weiter fuhr. Bald darauf saßen wir also zwischen der ganze Horde auf den Bänken und wurden gegrillt begrillt. Maries Eltern unterhielten sich mit einem Trainer sehr intensiv, wir wurden von einigen Jugendlichen ausgefragt, wie wir das früher mit dem Schulsport gemacht hätten, ob man mit Querschnittlähmung gut schwimmen kann und wie es überhaupt dazu gekommen sei, dass wir im Rollstuhl säßen …
… und plötzlich, ich wurde ja gerade erst in der letzten Online-Fragerunde ergebnislos nach meinem letzten peinlichen Erlebnis befragt, kippte diese Bank, auf der wir saßen, im Sand leicht nach hinten weg. Sie kippte nicht um, aber es reichte aus, um einen kleinen Schreck zu bekommen. Und eine Spastik im Bein. Ich trat mit meiner rechten Fußspitze dem etwa 14jährigen Mädchen, das mit gegenüber saß, vor das Schienbein. Sie war völlig perplex, und in dem Moment, in dem ich mich entschuldigte, schaute sie unter den Tisch. Eher, um den Tritt einer Querschnittgelähmten einzuordnen, weniger, um das zu sehen zu wollen, was sie dabei sah: Ich pinkelte auch gerade in meine Shorts. Nein, das war selbstverständlich nicht beabsichtigt, nicht vorher angekündigt, hochnotpeinlich und beim Essen natürlich noch einen Funken ekliger als ohnehin schon. Zumal es auch nicht drei bis acht Tropfen oder ein kleiner Schwall, sondern eher drei Gläser Alsterwasser (so heißt in Hamburg das Radler, also ein Gemisch aus Bier und Zitronenlimo) waren. Tja, Jule, schlecht disponiert! Ich hoffte vergeblich, dass das unentdeckt im Sand versickern würde. Das Mädchen guckte mich entgeistert an und bevor ich irgendetwas sagen konnte, schrie sie bereits los: „Igitt, das ist ja voll eklig, guckt mal!“ – Woraufhin natürlich alle unter den Tisch gucken mussten und kreischend von ihren Bänken aufsprangen und erstmal wegrannten. Marie saß rechts neben mir und murmelte: „Einfach nicht drauf reagieren. In dem Alter ist vieles ‚iiih.‘ Die kommen schon wieder zurück und dann kannst du es ihnen ja erklären.“
Mir rollten die Tränen über die Wangen, ohne dass ich es überhaupt beeinflussen konnte. Ich kaute auf dem plötzlich fad schmeckenden Fladenbrot herum, das immer mehr um Mund zu werden schien, legte mein Besteck neben den Teller und hoffte, ich dürfte aufwachen und alles wär sofort vorbei. Einen Moment später stellte jemand seinen Teller und sein Glas neben mir auf dem Tisch ab. Schob mit einer Fußbewegung trockenen Sand über die versickerte Pfütze und setzte sich links neben mir auf das Ende der Bank. Es war Maries Mutter. „Rutsch mal ein Stück“ bat sie mich. Ich schüttelte den Kopf. Sie wiederholte: „Rutsch mal ein Stück!“ – Ich sagte: „Das geht nicht, da ist die Bank nass.“
„Das ist eine Holzbank, die nimmt keine Feuchtigkeit auf. Jetzt rutsch doch mal bitte.“ – Marie und ich rutschten ein Stück nach rechts Nach Essen war mir nicht mehr zumute. Maries Mutter sagte: „Ich geh nachher mit dir noch eine Runde schwimmen, okay? Bitte denke mal kurz über eine Sache nach: Müsste Marie das peinlich sein, wenn ihr das passiert? Genau wie du für Marie empfinden würdest, empfinden Marie und ich für dich: Es ist alles gut, es gibt keinen Grund, aus dem du dich verstecken müsstest.“
Ich schluckte mehrmals, durch meine tränenden Augen konnte ich kaum noch was erkennen. Maries Mutter gab mir einen Kuss auf meinen linken Oberarm. Die anderen Kinder waren an den anderen Tischen zusammengerückt und aßen dort weiter. An unserem Tisch saßen wir nur noch zu dritt. Ich beruhigte mich wieder und aß auch irgendwann weiter. Inzwischen war es mir eher peinlich, überhaupt geweint zu haben. Es vergingen etwa zehn Minuten, dann kam das Mädchen, das ich versehentlich getreten hatte, auf mich zu, setzte sich wieder auf den alten Platz und sagte: „Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Das war unfair von mir. Ich habe nicht gewusst, dass auch deine Blase gelähmt ist und dass sowas ganz plötzlich passieren kann.“ – „Ist schon okay.“ – „Darf ich mich wieder hier hinsetzen?“ – „Klar.“ – „Meine Freunde auch?“ – „Sicher.“
Es schien ein eindeutiges Gespräch mit einem der Betreuer gegeben zu haben. Das Mädchen guckte zum anderen Tisch rüber und sagte zu ihren Freundinnen, die vorher bei uns am Tisch gesessen haben: „Ihr dürft!“ – Wie auf Kommando kamen sie alle wieder. Es herrschte eine angespannte Stimmung. Bis ein Mädchen fragte: „Wieso ist dir das denn passiert? Du hättest mir doch Bescheid sagen können, dass du aufs Klo musst, ich hätte dir auch deinen Rollstuhl geholt und hätte dich durch den Sand geschoben. Hast du dich nicht getraut?“
Marie sagte: „Das hat gar nichts mit ‚trauen‘ zu tun. Das Problem ist, wenn du dringend müsst, merkst du das. Es drückt, du wirst ganz hibbelig und irgendwann tut es auch weh. Wenn man aber querschnittgelähmt ist, drückt nichts. Und man wird auch nicht hibbelig. Und dann kann das passieren, dass man das nicht merkt, dass man dringend aufs Klo muss. Und irgendwann läuft es in die Hose.“ – „Ist dir sowas auch schon passiert?“ – Marie nickte. Und fragte: „Dir etwa nicht? Das passiert doch jedem mal, ob querschnittgelähmt oder nicht.“
In den Köpfen dieser Mädchen hatte sich etwas bewegt, das war eindeutig zu erkennen. Und von diesem nervenden Zwischenfall abgesehen, war es ein toller Abend. Gegen Mitternacht, die ganzen Jugendlichen waren bereits zurück auf ihrem Zeltplatz, war die Ostsee spiegelglatt. Es war ziemlich dunkel, nur der Holzweg war beleuchtet. Zeit für ein sehr gefühlsintensives und in dem wohl temperierten Meerwasser absolut herrliches Mitternachtsschwimmen. Nackt.
Und für einen schönen zweiten Strandtag.