Die eine oder andere Veränderung gibt es immer in unserem Wohnprojekt. Bei insgesamt 21 Personen, die sich über drei Etagen verteilen, ist das aber auch kein Wunder. Zwei Zimmer wurden frei, nachdem die beiden Bewohnerinnen außerhalb Hamburgs eine Ausbildung beziehungsweise ein Studium beginnen und dadurch in ein Internat beziehungsweise in ein Studentenwohnheim ziehen. Zum 01.08. bekamen wir nach längerem Auswahlverfahren und Probewohnen einen neuen Bewohner und eine neue Bewohnerin dazu, er ist 23 und wegen einer vererbten Erkrankung ständig, also auch innerhalb der Wohnung, Rollstuhlfahrer, sie ist 16 und Spasti, fährt längere Strecken außerhalb des Hauses im Rollstuhl.
Die junge Frau kommt direkt aus einer psychiatrischen Klinik zu uns. Was sie auch jedem relativ rasch und offen erzählt und sich selbst als „Psychospaste, waschfest und lichtecht“ beschreibt. Ich finde sie süß, auch wenn ihr Lieblings-T-Shirt den Spruch „Ich bin nicht süß!“ trägt. Und wäre das Wort „keck“ noch nicht entdeckt oder erfunden worden, wäre dafür spätestens jetzt großer Bedarf. Ein kleiner Wirbelwind mit Sommersprossen im Gesicht, eine kleine Nase, kinnlange dunkle Haare und eine sehr schlanke Figur fallen beim ersten Hinsehen auf. Das Jugendamt wurde intensiv tätig, um uns davon zu überzeugen, sie auch in dem Alter und mit der Vorgeschichte bei uns aufzunehmen. Selbst der behandelnde Klinikpsychologe kam persönlich hier vorbei, da es ihm, wie er sagte, eine Herzensangelegenheit sei, dass sie eine vernünftige Wohnung und damit zur Ruhe finde. Ich glaube, die Worte sind eindeutig.
Unterschiedlicher können die beiden Neulinge nicht sein. Trotzdem feierten sie ihren Einstand gestern abend gemeinsam mit einem feudalen Nudelauflauf. Mit allen, die spontan Zeit hatten. Und während der junge Mann keinen externen Besuch bekam, nahmen die Eltern und die Großeltern der jungen Frau an dem Essen teil. Insbesondere die Großeltern wollten sich anschauen, wo ihre Enkelin künftig lebt, und da wir strikt gegen „Besichtigungen“ sind, schließlich wohnen wir hier nicht im Streichelzoo, haben wir das gemeinsame Essen zum Anlass genommen, sie gezielt einzuladen und uns dabei kennenzulernen.
Damit das niemand falsch versteht: Jeder darf hier Besuch empfangen, wann er will und wen er will. Aber dann in seinem Zimmer. Es gibt auch kein Problem damit, wenn der Besuch mitkommt in die Küche oder in den Gruppenraum, mit kocht oder mit fernsieht. Und wenn sich dabei jemand bekleckert, wird auch niemand meckern, wenn man kurzfristig die Jeans eines Besuchs durch die Waschmaschine schickt. Aber Führungen durch all Etagen, gerade noch mit mehreren Personen, mal eben alle Bewohnerinnen und Bewohner kennenlernen, an alle Zimmer anklopfen und reinschauen wollen, wie das öfter von Organisationen und interessierten Personen angefragt wird, lehnen wir kategorisch ab. Das würde jemand aus einem Mietshaus oder einer großen Mehrgenerationen-/Patchwork-WG auch nicht einfach so mit sich machen lassen wollen.
Der Nudelauflauf schmeckte mir recht gut, den Eltern unseres Neuzugangs hingegen überhaupt nicht. Die Mutter ließ nach dem ersten Bissen durchblicken, dass man „bisher immer genug Geld gehabt hat, um die einzelnen Komponenten einer Mahlzeit sauber zu trennen“, und der Vater fügte mit spitzer Zunge hinzu, dass der Kommentar seiner Gattin „möglicherweise unberücksichtigt gelassen hat, dass der Matsch zwischen den zerkochten Teigwaren auch das Produkt einer spastischen Attacke sein könnte, in der seiner Tochter alles in den Häcksler geraten sei, was i der Küche so herumlag.“ Das entschuldige zwar einiges, erkläre aber auch, wie die zwischen den Zähnen knirschenden Eierschalen in den Brate geraten seien.
Ich weiß zwar nicht, was im Vorfeld alles vorgefallen sein mag, damit man so wird. Aber vor unbeteiligten Menschen derart über seine eigene Tochter zu pesten, passt in ein Familienbild, das durch mindestens eine psychische Erkrankung und Entscheidungen der Jugendbehörde mitgezeichnet wurde. Unser Frischling fing zu heulen an und bat die Eltern, zu gehen Sofie setzte ein eindeutiges Zeichen, rollte zur Tür, öffnete diese demonstrativ und sagte zu Marias Assistentin: „Könnten Sie den Herrschaften vielleicht ein Bündel rohe Karotten und eine Flasche Mineralwasser, sauber getrennt, mit auf ihren Weg nach draußen geben?“ Worüber sich die Tochter plötzlich kiechernd amüsierte. Die Eltern gingen und ließen ihren dampfenden Auflauf und einen ratlosen Opa zurück, dessen zwei Hörgeräte anscheinend mehr auf einen direkten Dialog als auf eine größere Unterhaltung eingestellt waren, und der die mit zerknirschter Miene ebenfalls zurück gebliebene Oma mit gerunzelter Stirn fragte: „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Woraufhin die Oma laut antwortete: „Das erzähle ich dir später, lass uns essen.“
Der Rest des Essens verlief ruhig und harmonisch. Anschließend schaute sich der Opa das Zimmer seiner Enkelin an und war wohl schwer begeistert. Er sprach auch mit Maria und bat sie, ob sie ihm auch ihr Zimmer zeigen könnte. Er erzählte, dass seine letzten Erinnerungen an Menschen, die ständig „untergebracht“ seien, ihn in die 1960er Jahre zurück führten, als ein selbstmordgefährdeter Bruder lange Zeit in eine geschlossener Einrichtung gelebt habe. Maria erklärte ihm, dass hier niemand „untergebracht“ sei, sondern alle Menschen hier freiwillig und aus persönlicher Überzeugung wohnen würden – und sich jederzeit auch eine eigene Wohnung suchen dürften und könnten. Sie seien halt nur von Pflege oder Assistenz abhängig. Beides lasse sich besser im großen Rahmen organisieren als für eine einzelne Person – wenngleich hier jede seine Hilfen für sich selbst organisiere und Leute wie beispielsweise die Stinkesocke allenfalls hauswirtschaftliche Hilfen (Getränkekiste tragen, Glühbirne wechseln) abrufe.
Der Opa sagte, er habe sich das ganz anders vorgestellt. Selbst ein Zimmer, in dem jemand wohne, der ständig auf Hilfe durch andere Menschen angewiesen sei, unterscheide sich nicht von einem Zimmer in einer ganz normalen Familie mit nicht behinderten Menschen. Und niemand laufe in weißen Hosen herum. Als er gehört hatte, seine Enkelin werde in einer Einrichtung untergebracht, hätte er sich eine Anschlussbehandlung an de Klinikaufenthalt, so etwas wie eine Kurklinik, vorgestellt. Etwas stationäres. Hier würde man jedoch wohnen und leben. „Das gefällt mir ganz ausgezeichnet, das ist sehr gut für unser Mädchen“, sagte er zur Oma und nahm sie in den Arm. Und fragte sie: „Ich finde, wir sollten uns erkundigen, ob wir ihr monatlich ein kleines Taschengeld zahlen können was denkst du?“ – „Das finde ich eine sehr gute Idee von dir, Vater, das unterstütze ich sofort!“