Über Eine Quotenbehinderte

Wir betreiben nicht dieselbe Sportart, aber wir betreiben beide Rollstuhlsport. Laufen Rollen uns dabei auch üblicherweise nicht über den Weg, höchstens mal bei einer Versammlung. Oder wenn wir eher zufällig dazu verdonnert werden, einen Termin wahrzunehmen, bei dem es um sportpolitische Themen geht und bei dem wir unsere Vereine oder zumindest unsere Sportarten vertreten sollen.

Ich habe Stefanie bisher immer völlig anders eingeschätzt. Asche auf mein Haupt, dass ich mich einerseits so verschätzen konnte, andererseits überhaupt geschätzt habe. Aber leider ist es bei mir manchmal so: Ich bekomme einen ersten Eindruck, einen zweiten, einen dritten – und dann male ich mir ein Bild, von dem ich dann später merke, dass es gar nicht stimmt. Ich habe Stefanie bisher als junge Frau gesehen, die mit allen vier Rädern fest im Leben steht, nicht weiß, wie sie die ganzen Verabredungen mit Freundinnen und Freunden in ihrem Terminkalender unterbringen soll, einen guten Job hat, einen tollen Mann, eine gemütliche und unbefangene Familie, ein schönes Haus im Grünen … irgendwie so.

Sie ist absolut hübsch. Würde mir jemand ein Foto von ihrem Gesicht zeigen und behaupten, sie sei ein erfolgreiches, teures Model, würde ich das sofort glauben. Sie wirkt absolut ruhig und gefasst, sagt klar, was sie denkt und was sie fühlt, lacht sehr gerne, macht insgesamt einen absolut sympathischen ersten Eindruck. Ohne es übertreiben zu wollen, sie wirkt automatisch auch etwas majestätisch. Allerdings nicht im Sinn von herrschaftlich, theatralisch, pompös, sondern eher beeindruckend i Sinne von berühmt, imponierend, souverän, würdevoll. Alleine durch ich aussehen, ihren Kleidungsstil, ihre Bescheidenheit, ihre Zurückhaltung.

Zurückblickend hätte ich große Lust gehabt, sie näher kennen zu lernen. Ich habe aber nie von mir aus den Kontakt gesucht. Ich habe gedacht, die Antwort würde lauten: „Du bist zu jung, du bist zu albern, wir haben keine Gemeinsamkeiten. Für Smalltalk bei einem zufälligen Treffen reicht es, ansonsten habe ich genügend Freunde, die jetzt schon wegen meines viel zu vollen Terminkalenders viel zu kurz kommen. Aber nett, dass du gefragt hast.“ – Wer hat darauf schon Bock?

Bis ich vor einigen Tagen eine Mail bekam: „Ich habe erfahren, dass du im Krankenhaus liegst. Leider habe ich deine Handynummer nicht. Ich hätte gerne mal mit dir gequatscht. Wenn du magst und deine Zeit es erlaubt, ruf mich doch einfach mal an. Liebe Grüße aus [einem Nobelstadtteil Hamburgs] und gute Besserung für dich! Werd schnell wieder fit!“

Ich war einigermaßen überrascht und habe ihr eine SMS zurück geschrieben, mich für die netten Wünsche bedankt. Und quasi bevor die SMS fertig gesendet war, rief sie mich an. Und begann das Gespräch mit: „Hallo Jule, ich habe immer einen Anlass gesucht, dich mal anzurufen, aber er war nie wichtig genug. Heute ist der Anlass zwar ein blöder, aber ich habe mich durchgerungen, dir zu schreiben. Wenn du das jetzt doof findest, sag das einfach, dann leg ich einfach wieder auf und werd dich nicht weiter nerven.“

Ich war so perplex, dass ich erstmal gar nichts gesagt habe. Bis ich dann ein „nein, ich freue mich, ich bin nur gerade etwas überrascht und durcheinander“ über die Lippen brachte. Sie wollte wissen, ob ich noch im Krankenhaus sei und als ich das verneinte, was ich den ganzen Tag so machen würde. Ich sprach kurz über mein Studium und über meinen Sport, erzählte irgendwann, dass ich letztes Wochenende in der Sauna war – da sagt sie: „Ich bin früher auch gerne in die Sauna gegangen. Mit meinen Eltern. Aber da konnte ich noch laufen.“

Sie meinte, sie würde es eines Tages gerne mal ausprobieren, ob das auch mit dem Rollstuhl geht. Ich sagte: „Warum sollte das nicht gehen?“ Und ohne dass wir lange überlegt haben, waren wir verabredet. Wir kennen uns überhaupt nicht und gehen zusammen in die Sauna. Verstanden habe ich das selbst nicht. Aber es war ein wunderschöner Tag. Wir haben über neun Stunden lang über alles mögliche geredet und uns gegenseitig fast die gesamte Lebensgeschichte erzählt.

Und dabei hat sie mir auch erzählt, dass sie einen beschissenen Job hat, bei dem sie als „Quotenbehinderte“ zur Vermeidung der Ausgleichsabgabe nur gemobbt und ausgegrenzt wird (Betriebsweihnachtsfeier im Restaurant mit Stufen, man geht einfach davon aus, dass sie nicht dabei ist und sagt ihr das auch so ins Gesicht), dass sie aber nichts anderes findet. Sie hat eine kaufmännische Ausbildung, kann aber wegen ihrer Behinderung nur mit den beiden kleinen Fingern am Computer schreiben, da sie keine Handfunktion hat. Mit Stift und Papier kann sie überhaupt nichts anfangen.

Sie war fünf Jahre mit einem Mann zusammen, der sie allerdings mit einer zweiten Frau betrogen hat und ihr nicht sagen konnte, dass er auch jemanden zum Vorzeigen brauche und sie diese Rolle nicht übernehmen könnte. Sie sagte, sie verstehe heute nicht, wie sie sich so in einem Menschen täuschen konnte. Die Eltern haben sie bis zuletzt überreden wollen, trotzdem mit dem Typen zusammen zu bleiben, weil sie es als ausgeschlossen sahen, dass ihre Tochter jemals einen neuen Mann finden würde. Ihre Behinderung schreitet unaufhaltsam fort – wer liebt schon jemanden, der eines Tages pflegebedürftig sein wird, wenn diese Liebe nicht schon vorher bestanden hat? Also besser jemanden, der unehrlich ist, als gar keinen. Stefanie war da anderer Ansicht und hat den Typen in die Wüste geschickt. Und damit das Verhältnis zu den Eltern auch neu überdenken müssen.

Und zum Thema „Wohnen im Nobelstadtteil“: Sie wohnt tatsächlich in Ecke, in der überwiegend große Villen stehen. Aber es gibt dort auch sozialen Wohnungsbau und ihr Gehalt reicht für eine nicht barrierefreie Einzimmerwohnung. „Nicht barrierefrei“ in dem Sinne, dass sie zwar ohne Stufe rein und raus kommt, alleine sich aber nichts kochen kann, nicht mal alleine die Haustür aufschließen kann.

Als ich dann auch noch erfuhr, dass sie zwar zwei, drei sehr enge Freundinnen von früher hätte, diese aber inzwischen alle verheiratet seien und Familie hätten, so dass sie zwar regelmäßig telefonieren und sich auch mal zum Kaffeetrinken treffen, mehr aber nicht mehr drin wäre habe ich wirklich gezweifelt, wie ich mich so verschätzt haben könnte. Als ihr zum Geburtstag zwar fünf, sechs Leute gratuliert haben, ihre Feier am Samstagabend aber trotz zahlreicher Einladungen spontan und unfreiwillig im kleinen Kreis stattfand (sie hat den Imbissbudenbesitzer an der nächsten Straßenecke zu einer Currywurst eingeladen, ihm aber nicht erzählen mögen, warum) und sie mir erzählte, dass Weihnachten am schlimmsten sei, weil sie dort drei Tage alleine sei und sich dann am 27. anhören müsse, wie toll alle anderen gefeiert hätten, habe ich wirklich geschluckt. Ich weiß, dass es Tiefstapler gibt, und ich weiß, dass ich sie völlig falsch eingeschätzt hatte – aber ich bin mir absolut sicher, dass das absolut ehrlich war. Und ich fürchte, dass sie zunächst so „majestätisch“ wirkt, macht es ihr nicht einfacher.

Wir hatten ein absolut offenes Gespräch, auch über viele andere, positive, auch intime Themen und ich habe ihr selbstverständlich auch von meinem ersten Eindruck erzählt. Sie sagte, dass sie das schon ganz oft gehört hat und sie aber nicht weiß, woran das liegt und wie sie das ändern kann. Ich hatte die Vermutung geäußert, dass sie ein wenig zu schüchtern ist. Denn wenn man mit ihr eine halbe Stunde zusammen ist und frei von der Leber weg quatschen kann, kommt eine völlig andere Stefanie zum Vorschein. Als Friedrich Ludwig Schröder 1786 das Drama „Stille Wasser sind tief“ geschrieben hatte, hätte er vermutlich nicht für möglich gehalten, 225 Jahre später damit in meinem Blog zusammen mit Stefanie in einer Zeile zu stehen. Nur soviel: Sie hat es faustdick hinter den Ohren und ich glaube, wir werden sehr viel Spaß zusammen haben! Es war ein absolut wertvoller Tag und einen so schönen, langen und anspruchsvollen Dialog hatte ich davor bisher nur in sehr engen und intensiven Freundschaften.

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