Gestern war ich noch einmal mit der quotenbehinderten Steffi in der Therme und es war noch einmal sehr schön. Wir haben uns erneut gut unterhalten über sehr viele verschiedene Themen und es war so ein vertrautes Verhältnis zwischen uns beiden, dass es mir so vorkam, als würden wir uns schon viele Jahre kennen. Es haben mich aber einige Dinge erneut sehr nachdenklich gestimmt und mich auch überlegen lassen, wie es mir wohl gehen würde, wenn mich nach meinem Unfall niemand an die Hand genommen und mir gezeigt hätte, wie man im Rollstuhl, mit einer körperlichen Einschränkung, zurecht kommt. Wie man die Hilfe bekommt, die man braucht; wie man trotz Hilfe noch selbständig sein kann.
Ich kenne Maria, die für viele Alltäglichkeiten Hilfe braucht, sie perfekt organisiert und bei uns in der WG klar kommt. Mir der abrufbaren und finanzierbaren Assistenz. Die vorher in einem Pflegeheim gelebt hat, wo sie, rückblickend betrachtet, sich eigentlich selbst aufgegeben hatte. Ich kenne noch andere Menschen, die ebenfalls deutlich mehr Hilfe im Alltag brauchen als ich. Sie alle sind enorm selbständig.
Steffi ist auch enorm selbständig. Sie lebt alleine, sie arbeitet, fährt Auto, kauft ein, putzt ihre Wohnung, treibt Sport … im Rollstuhl sitzend und ohne Handfunktion eine beachtliche Leistung, wie ich finde. Sie lebt ausschließlich von dem Geld, das sie durch ihre Arbeit verdient, bekommt keinen Cent Unterstützung vom Staat. „Für eine Pflegestufe bin ich zu selbständig. Ich kann alleine duschen, ich kann alleine aufs Klo, damit ist eigentlich schon alles gesagt. Ob das Duschen eine Stunde dauert, spielt keine Rolle, es zählt, dass ich es alleine kann. Für Assistenz bekomme ich auch kein Geld, die müsste ich selbst bezahlen.“
Auf meine Frage, ob sie denn überhaupt so viel verdiene, dass sie das könnte, sagte sie: „Natürlich nicht. Ich bekomme knapp 1.500 € pro Monat. Davon lege ich jeden Monat 300 Euro auf mein Sparbuch, für mein Auto, für den Zahnarzt, meine Brille – und weil ich im Februar gerne zwei Wochen ins Warme fliege. Das ist der einzige Luxus, den ich mir gönne, und der muss auch sein – dieser kalte Winter mit Schnee tut meinem Körper nicht gut und mein Allgemeinbefinden verschlechtert sich, wenn es lange Zeit kalt ist. Ich bekomme dann Schmerzen, ich bin kraftlos, unkoordiniert – wenn es dann geschneit hat und morgens um 5.30 Uhr noch nicht geräumt ist, brauche ich manchmal über eine Stunde von der Haustür zum Parkplatz. Um die Zeit sind nur selten Menschen auf der Straße, und wenn, hilft auch nicht jeder. Das sind nicht mal 30 Meter, aber die Mehrzahl der Leute reagiert gar nicht oder sagt: ‚Sorry, keine Zeit!‘ – Wenn ich dann mit einer Stunde Verspätung am Arbeitsplatz ankomme, kommen die üblichen Sprüche, ob es bei Schnee mit dem Autofahren nicht klappt, ob ich verschlafen hätte, … nachmittags ist es besser, da sind die Leute entspannter, da helfen eigentlich so 7 von 10.“
700 € gehen für die Miete samt Nebenkosten drauf, von den verbleibenden 500 € zahlt sie Klamotten, Essen, Benzin für den Arbeitsweg, und was man sonst noch so braucht. Das Problem mit dem Sparen ist bekannt. Sobald man mehr als 2.600 € auf dem Sparbuch hat, muss man benötigte Assistenz selbst finanzieren. Steffi legt dieses Geld aber zurück, damit sie ihr Auto unterhalten kann – das muss ja von Zeit zu Zeit mal in die Werkstatt. Oder ersetzt werden. Sie könnte jetzt von den 5.000 € drei Monate lang je 500 € für Assistenz aufwenden. Dann wäre sie unter dem magischen Betrag von 3.600 €, dann käme das Sozialamt für ihre Assistenz auf. Aber dann hätte sie nicht mehr genug Geld zum Verreisen und dazu, die Autoreparaturen zu zahlen. Also verzichtet sie auf die Assistenz – ihrem Urlaub zuliebe.
Steffi geht den falschen Weg. Aus moralischer Sicht gewiss nicht. Aber aus egoistischer, gewinnorientierter Sicht. Würde sie das Geld nämlich nicht zurücklegen, sondern sofort alles ausgeben, dann würde sie das Auto und die Reparaturen von der Rentenversicherung oder vom Sozialamt bezahlt bekommen. Sie braucht das Auto schließlich, um zur Arbeit zu kommen. Und sie würde die Assistenz bewilligt bekommen. Und jedes Jahr eine vierwöchige Kur im Februar. Sie müsste sich laut Frank mit etwa 220 € pro Monat an den Kosten beteiligen – mehr wäre ihr mit Blick auf die Höhe des Verdienstes nicht zuzumuten.
Nur die Kur hilft ihr nicht. Was ihr hilft, ist ein anderes Klima, warme Luft. Und das ist Luxus. Dieser „Luxus“ ist ihr so wichtig, dass sie dafür das ganze Jahr über darauf verzichtet, ihren Assistenzbedarf professionell abzudecken. Häufig bittet sie im Moment die Nachbarn, Bekannte, Freunde. Die dann aber nach einiger Zeit davon und damit auch von Steffi die Nase voll haben. Sie sagt, sie versucht die Dinge, die sie absolut nicht alleine kann, auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Und sehr genügsam zu sein – eine ausgeschüttete Geldbörse bleibt dann eben ein paar Wochen leer und solange liegen die Münzen auf dem Fußboden ihres Zimmers verteilt.
Zum Fensterputzen kommt eine Firma, die dafür jedes Mal fünfzig Euro nimmt. Das ist zwar günstig, dafür steht aber hinterher jedes Mal die halbe Wohnung unter Wasser. Beim Einkaufen hilft ihr der Supermarkt, der die ausgesuchten Sachen nach Hause liefert, dabei aber gerne die Eier zerschlägt und die Tiefkühlartikel auftauen lässt.
Und dann wäre da noch: „Jule, kannst du mir, bevor wir ins Schwimmbecken gehen, einmal die Fußnägel schneiden? Du darfst ‚Nein‘ sagen, aber vielleicht macht es dir nichts aus und mir tätest du einen großen Gefallen.“ – Macht es mir was aus?
Und dann wäre da auch noch: „Jule, wenn wir nach dem Schwimmen noch was Essen gehen, macht es dir was aus, mir die Nudeln klein zu schneiden? Ich würde so gerne den überbackenen Nudelauflauf essen, aber ich kann nur eine Gabel oder einen Löffel halten – mit beiden Händen gleichzeitig.“ – Macht es mir was aus?
Und sonst: „Jule, macht es dir was aus, wenn du mir nach dem Föhnen die Haare zusammenbindest? Ich würde so gerne mal wieder einen Zopf haben, aber alleine kann ich das nicht.“ – Macht es mir was aus?
Ich bekam heute eine SMS: „Es war der leckerste Nudelauflauf der letzten 365+ Tage. Und dein geflochtenes Meisterwerk hat die Nacht schadlos überlebt und ich fühle mich so glücklich, weil mir heute schon so viele Leute gesagt haben, dass mir das steht. Vielen, vielen Dank.“ – Macht es mir was aus?