Zehn Stunden Sonne, angenehme 24 Grad, etwas Wind, links von mir weißer Sand, rechts von mir weißer Sand, warmes Meer, kein Lärm, entspannte Leute, keine Böller – ich glaube, ich habe noch nie einen so entspannten Silvestertag erlebt!
Mir tut es sehr gut, mal für ein paar Tage nur Leute in meiner Nähe zu haben, die mich nicht irgendwie nerven oder ärgern. Gerade in letzter Zeit hatte ich öfter mit nicht altersentsprechendem Verhalten meiner Mitmenschen zu tun, und ich habe mir, mit etwas Abstand zu den Ereignissen des zweiten Weihnachtstages, als Vorsatz für das neue Jahr vorgenommen, auf solche Dinge künftig etwas egoistischer zu reagieren.
Ich muss in diesem Jahr noch ein wenig schwere Kost verdauen, denn fehlen darf der zweite Weihnachtstag in meinem Blog nicht: Marie hatte einige Leute vom Sport (gruppenübergreifend) zum Weihnachts-Brunch eingeladen. Unter anderem war ein Sportkollege dabei, der kein Rollstuhlfahrer ist. Er legt immer sehr, sehr schüchternes Verhalten an den Tag. Ich möchte gar nicht wissen, ob es dazu vielleicht sogar eine Diagnose gibt, da ich den Menschen sehe: Einen Mann Anfang 20, auffallend lange Haare, die er stets offen trägt, eher groß, recht athletisch gebaut. Er fällt mir regelmäßig durch eine große Hilfsbereitschaft auf. Ich kenne ihn nur vom Rennbike-Training, er trainiert auf dem Rennrad in einer parallel stattfindenden Fußgängergruppe, Marie hatte ihn zum Weihnachtsbrunch eingeladen, weil sie ihn nett findet.
Und zwei Leute „vor Ort wieder ausgeladen“, um genau zu sein: Ein Pärchen durfte gehen. Oder fahren, denn die beiden sitzen im Rollstuhl. Sie trainieren nicht mit uns, sondern sind uns (oder mehr Marie) aus der „Rolliszene“ bekannt. Und können auch nett sein. Marie hat den beiden kurzerhand beim Essen die Teller aus der Hand genommen und sie aufgefordert, die Party auf direktem Wege zu verlassen. Ich hatte das erst nicht richtig mitbekommen, aber was sie mir nachher erzählte, … wie gesagt, ich bin froh über den Abstand, den ich im Moment nach Hamburg habe.
Hauptsächlich der männliche Teil des Paares hat wohl keine Gelegenheit ausgelassen, um über diesen jungen Mann abzulästern. Dieser junge Mann verhält sich halt ein wenig auffällig, gerade wenn unbekannte Leute da sind. Er kommt immer schon sehr früh, ich vermute, um zu vermeiden, dass er auf andere Leute zur Begrüßung zugehen muss. Wenn dann doch schon jemand da ist, dann läuft er ein paar Mal im Sichtbereich dieser Gruppe auf und ab und traut sich nicht, sich den anderen Leuten zuzuwenden und sie zu begrüßen. Ich kenne das schon vom Sport, ich mache dann immer kurzen Prozess, rolle auf ihn zu und rede dabei schon mit ihm, mache ihm deutlich, dass ich ihn gesehen habe und mich über seine Anwesenheit freue: „Hallo XY, schön, dass du da bist, bist du gut durchgekommen?“ – Dann gebe ich ihm die Hand und danach ist alles gut. Dann kommt er mit, setzt sich neben mich oder stellt sich zu einer bereits bestehenden Gruppe dazu oder ähnliches. Es braucht halt diesen einen Anschub, und ganz ehrlich: So oft, wie ich mal einen Schubs bei einer Stufe brauche, wo ist das Problem, den jungen Mann an seiner „Grenzlinie“ abzuholen?
Ich sehe darin jedenfalls kein Problem. Nicht nur, weil ich als Rollstuhlfahrerin hin und wieder mal Hilfe brauche. Sondern auch sonst. Genauso, wie man ihm sagen muss: „Nimm dir auch was zu essen! Das Buffet ist für alle da!“ – Er fragt auch nicht, wo das Klo ist, sondern ob er es benutzen darf. Besagtes Pärchen (oder vielmehr der männliche Part des Pärchens) sah wohl, wie dieser junge Mann sich nicht traute, rein zu kommen oder zu klingeln, und meinte dann: „Wollen wir ihn mal zwei, drei Stunden vor der Tür rumtickern lassen? Mal sehen, wann er Hunger hat und doch noch klingelt.“
Auf ein scharfes „das finde ich jetzt gerade überhaupt nicht witzig – Jule kannst du ihm mal die Tür aufmachen?“ von Marie kam dann, so erzählte sie mir später: „Okay, therapeutischer Ansatz. Wir zählen, wie oft er da draußen im Kreis rennt und je angefangenes Dutzend muss er einmal klingeln, und für jedes Mal Klingeln darf er sich eins von diesen süßen kleinen Fruchtstückchen von der Platte nehmen.“
Es soll Leute geben, die sowas nach ihrem 5. Bier am frühen Morgen lustig finden. Entsprechend gab es wohl Gelächter, und auf Maries bösen Blick fing der weibliche Teil des Pärchens an, zu beschwichtigen: „Jetzt mal im Ernst, dass dem so ein kleiner Ziehfaden aus der Mütze hängt, kann doch niemand abstreiten. Er ist ja ganz nett und das ist auch überhaupt nicht böse gemeint, aber der Haschi ist doch offensichtlich.“
Daraufhin hat Marie erst ihr und dann ihm, selbst noch halb kauend, den Teller vom Schoß genommen und dann gesagt: „Es gibt immer mal so Momente, da muss man als Gastgeberin Entscheidungen treffen. Dieses ist so ein Moment und ich habe mich entschieden, meine Einladungsliste zu überdenken und ohne euch beide weiter zu feiern.“
Reaktion von ihm: „Okay?! Wenn du meinst, dass deine Reaktion angemessen ist, … bitte. Ich finde, du machst dich gerade ein bißchen lächerlich, aber es ist deine Party und dein Haus. Ich wünsche euch jedenfalls viel Spaß, die Stimmung anschließend wieder über den Nullpunkt zu heben.“
Marie ließ sich zu einer weiteren Antwort provozieren: „Es ist nicht mein Haus, sondern das meiner Eltern, und ihr könnt beide froh sein, dass sie das nicht gehört haben.“ – Während die beiden sich betont langsam die Jacken überzogen, machten sie noch weitere 20 Sprüche, anschließend verschwanden sie und keine zwei Stunden später war in einem sozialen Netzwerk unter einem Foto zu lesen: „Spontan ein bißchen Weihnachten feiern mit … und … und … und … und … an der Elbe bei wunderschönem Wetter und drei Thermoskannen Glühwein.“
Nun denn, wir hatten keinerlei Probleme, die Party ohne Glühwein wieder in einen positiven Stimmungsbereich zu schieben. Irgendwie hatte niemand mehr Lust, über dieses Thema weiter zu diskutieren. Dennoch dauerte es nicht lange, bis der junge Mann mitbekommen hatte, was da los war. Seine Reaktion: „Hätte ich das gewusst, wäre ich gar nicht erst gekommen.“ – Maries Antwort: „Gut, dass du es nicht gewusst hast. Dass ich die beiden an die Luft gesetzt habe, hat weniger was mit dir zu tun. Gerade in meinem Zuhause dulde ich keine Ausgrenzung. Und gerade wegen meiner Behinderung bin ich da sehr sensibel.“
Am Abend verblieben noch ganz wenige Leute, vier insgesamt, zu einer gemeinsamen Sauna-Nacht. Der war wiederum richtig nett und eine tolle Einstimmung auf die wärmende Sonne in Dubai.
Für mich war das der letzte Beitrag in meinem Blog im Jahr 2013. Es war mein fünftes Blog-Jahr. Und wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Es ist aber gerade nicht am schönsten, sondern es gibt noch viele, viele Dinge, die schöner sein könnten. Darum mache ich weiter und schreibe weiterhin über mein Leben und alles, was mich so bewegt. Ich freue mich über die vielen Leserinnen und Leser, die mir und meinem Blog auch im Jahr 2014 treu bleiben wollen und wünsche allen einen guten Rutsch und ein glückliches neues Jahr!