Weil sie nicht im Rollstuhl sitzen

„Wo bleibt dein Humor?“, war eine anlässlich meines letzten Postings mehr als einmal gestellte Frage. Weil ich über den blöden Witz mit dem Schuhband nicht lachen konnte. Und weil ich es befremdlich fand, von wildfremden Menschen auf meine Unterwäsche angesprochen zu werden. Nun, ich möchte mich nicht rechtfertigen, warum ich manchmal nicht (mehr) den Humor habe, der solche Situationen geschmeidiger auflösen würde. Aber wenn solche Fragen gestellt werden, möchte ich es gerne erklären. Und ganz am Ende mal einen Versuch starten.

Ich lache sehr gerne. Über mich, über meine eigene Dusseligkeit, über meine Missgeschicke, über Situationskomik, über Witze, über Dinge, die komisch aussehen – ich halte mich für einen sehr fröhlichen Menschen und das Lachen kommt von ganz alleine. Dieses Lachen tut mir gut. Es gibt aber auch noch ein zweites Lachen (oder besser: Lächeln), jenes aus Anstand. Und das ist einmal okay, ein zweites Mal auch, aber dann wird es irgendwann anstrengend. Und wer über einen langen Zeitraum angestrengt ist, wird irgendwann müde.

Genauso ist es mit Unterhaltungen. Ich könnte und kann mich stundenlang mit netten Menschen unterhalten. Ein Thema ergibt das andere, wir vergessen die Zeit. Solche Gespräche finde ich toll, sie geben mir Kraft, sie machen mich glücklich. Es gibt aber auch noch etwas anderes, das nennt sich Small Talk, Gespräche aus Höflichkeit. Die sind auch okay, hin und wieder, aber ich bin keine Dauer-Small-Talkerin. Sinnloses, oberflächliches Gelaber möchte ich nicht den ganzen Tag ertragen, weder aktiv noch passiv. Das strengt mich an, das macht mich ebenfalls müde.

Und dann gibt es noch etwas: Achtung und Höflichkeit voreinander, Toleranz im Umgang miteinander und eine gewisse Distanz zueinander. Ich gebe zu, mir fällt es nicht immer leicht. Aber optimalerweise ergänzen sich zu wenig Achtung und zu wenig Höflichkeit durch die Toleranz des anderen und die Distanz, die zwischen den beiden Menschen steht. Ich empfinde es so, dass ich im Alltag sehr häufig (um nicht ‚extrem häufig‘ zu sagen) eine mangelnde Distanz anderer zu mir, mangelnde Achtung und fehlende Höflichkeit vor mir durch ein großes Maß an Toleranz kompensiere. Meine Behinderung liefert häufig den Anlass, aber die Verbindung meiner Behinderung mit meiner Person (zu ‚Die Behinderte‘) ist es, was mich oft wütend macht. Für die meisten Menschen im Alltag bin ich ‚eine Behinderte‘, und nach wie vor die meisten Menschen im Alltag können entweder nicht damit umgehen, dass ich eine körperliche Einschränkung habe, oder dass meine körperliche Einschränkung nicht der Mittelpunkt ist, um den sich mein ganzes Leben dreht.

Es werden auf diese Zeilen vermutlich wieder einige mit der Frage reagieren, ob ich zu lange nicht richtig durchgevögelt worden bin. Oder weniger ordinär ausgedrückt: Ob ich keine anderen Sorgen habe, meine Tage bekomme oder meine Gedanken nicht etwa einer zunehmenden und überflüssigen, schädlichen Verbittertheit geschuldet sind. Ich möchte auch das beantworten: Ja, ich bin untervögelt. Man könnte fast schon von einem chronischen Leiden sprechen. Allerdings: Ich habe auch noch andere Sorgen. Meine Tage sind nicht fällig und die Frage, ob meine Auseinandersetzung mit dem Thema überflüssig und schädlich ist, möchte ich mal verneinen. Schädlicher fände ich, an nicht ausgesprochenen Schwierigkeiten tatsächlich zu verbittern.

Ich bin, und das gebe ich zu, über einiges chronisch genervt. Etwa darüber, dass mir Leute jeden Tag denselben Unsinn erzählen und empört sind, wenn ich darüber nicht mehr lachen kann und auch nicht täglich lächeln möchte. Etwa wie die Kassiererin an der Supermarktkasse, die sich von jedem dritten Kunden in dem Moment, in dem sie einen Artikel mehrmals über das Scannerfenster halten muss, bevor er endlich erfasst wird, anhören darf: „Oh, gibt es den heute umsonst?“ – Mit dem Unterschied, dass sie für ihre Arbeit und ihre Höflichkeit bezahlt wird.
Würde man ihr das übel nehmen, wenn sie auf den Spruch nur müde lächelt oder gar nichts sagt und die nicht gelesenen Ziffern per Hand eingibt? Und erst wieder lächelt, wenn der Kunde einen gerade aus dem Automaten gezogenen Geldschein mit den Worten: „Hab ich heute morgen frisch gedruckt!“ übergibt?

Ich bin eigentlich ein total schüchterner Mensch. Ich möchte in der Öffentlichkeit nicht angesprochen werden. Ich möchte auch keinen Dialog mit fremden Menschen führen. Ich möchte mich in die hinterste Ecke des Busses setzen, meine Musik hören und in Ruhe gelassen werden. Schal bis über die Nase, Mütze bis über die Augenbrauen. Ich bin auch mal zu früh aufgestanden, vielleicht sogar mit dem falschen Bein, mir ist kalt, mich
nervt der halb geräumte und mit Tonnen von Salz und Sand bestreute Schnee auf dem Gehweg, die ganzen losen Platten, Fugen, Pfützen, Hundehaufen und falsch parkenden Autos, ich habe Schiss vor irgendeinem Vortrag, den ich gleich halten soll, bin wegen meiner Zwischenprüfung angespannt und habe Hunger.

Jede andere Studentin in meinem Alter würde man einfach in Ruhe lassen. Sicher, sie müsste ihre Fahrkarte zeigen, wenn im Bus eine Kontrolle ist. Sie müsste artikulieren, welches Brötchen sie kaufen möchte, wenn die Verkäuferin sie anschaut. Aber sie würde nicht permanent dichtgelabert werden, müsste nicht ständig ihren Knopf aus dem Ohr ziehen und auf irgendwas reagieren – unter den Blicken Dutzender Menschen, die, ohne fachlich versiert zu sein, prüfend schauen, ob ich die eine oder andere Alltäglichkeit hinbekomme, sofort bereit zu einer Erklärung oder einer Hilfestellung. Klar, es ist nett gemeint. Aber ’nett gemeint‘ ist nicht immer nett. Sondern eben manchmal auch nervig. Ich vermisse es oft, dass meine Mitmenschen sich eine völlig simple Frage stellen: „Würde die Frau überleben, wenn ich jetzt nicht da wäre?“ – Mein Alter sollte die Frage beantworten: Ich bin schon groß.

Zurück zu denjenigen, die mich ansprechen (ich meine damit nicht die Fragerunden in meinem Blog, sondern persönliche Dialoge auf der Straße):
Da stehen Dutzende Leute am Bahnsteig. Warum wird der Typ mit dem Gangsterblick nicht gefragt, ob seine Unterhose warm ist? Warum streicht der Frau mit dem Kinderwagen und dem Partner an der Seite niemand durch
die Haare? Warum wird die Schülerin nicht gefragt, ob sie ihre Tage bekommt und gerne Strings trägt? Warum will niemand von dem älteren Mann mit dem Stock wissen, ob seine Prostata ein Nachträufeln bedingt? Warum
wird der Uniformierte nicht gefragt, woher seine Narbe an der Stirn kommt? Warum schenkt dem Mann in Schlips und Kragen keiner Geld? Warum fragt die Frau mit Kopftuch niemand, ob sie ihre Gebärmutter noch hat und ob der Sex mit ihrem Mann sie befriedigt? Warum bedauert niemand den Schüler, der mit seinen gerade erst 15 Jahren schon Legasthenie hat? Warum fasst niemand der Busfahrerin an die Hüften und schiebt sie durch die nächstbeste Tür? Warum will von der Polizistin niemand die Oberweite wissen?

‚Weil sie nicht im Rollstuhl sitzen?‘ – Das kann doch nicht die richtige Antwort sein.

Ich habe mir mal den Spaß gemacht, wollte einen Tag lang mitschreiben. Ich hatte einen kleinen Block und einen Kugelschreiber in der Tasche und wollte bei jeder Gelegenheit Notizen machen über die Dialoge mit wildfremden Menschen. Auch auf die Gefahr hin, dass mich den ganzen Tag lang nur wenige Leute ansprechen und die Liste abends völlig langweilig ist. Wer möchte, darf mal reinlesen – ich habe nach 3 Stunden abgebrochen. Und nein, es war kein außergewöhnlicher Tag. Aber auch kein gewöhnlicher.

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