Keine zweite Chance

Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man täglich viele neue Leute kennenlernt. Ich meine den Kreis, mit dem man täglich zu tun hat. Genauso wie den Kreis derjenigen, von denen man erst herausfinden muss, dass man mit ihnen nicht täglich zu tun haben möchte. Alle Menschen, die mir neuerdings über den Weg laufen, zu beschreiben, wäre zu umfangreich – und auch nicht nötig. Will sagen: Es gibt in meinem neuen Umfeld sehr
viele entspannend unkomplizierte Menschen. Zumindest wirkt es bisher so. Es wirkt außerdem so als wäre mein Idiotenmagnet etwas schwächer geworden.

Am letzten Wochenende hat mich eine Kommilitonin gefragt, ob ich mit ihr zum Rollstuhlbasketball wollte. Sowas ist mir ja noch nie passiert. Die Kommilitonin ist Fußgängerin und wollte von mir … ja, was eigentlich? Egal, ich fand es nett. In Hamburg hätte ich mit Sicherheit gesagt: „Nö, lass mal. Das ist keine Sportart, die ich mir jetzt zwei Stunden oder länger ansehen müsste. Nicht, weil sie nicht sehenswert wäre, im Gegenteil. Nur bin ich eher selbst aktiv, statt still auf der Bank zu sitzen. Nicht im Basketball, sondern in anderen Sportarten. Aber hier und jetzt … ich sagte spontan zu und so fand ich mich plötzlich über 100 Kilometer entfernt in einer großen Sporthalle am Spielfeldrand wieder. Meine Kommilitonin hatte einen klaren Favoriten – ich schloss mich an.

Nach dem Spiel sollte vor dem Spiel sein, wenn es nach dem Wunsch eines Sportlers gegangen wäre. Er kam nach dem Spiel auf mich zu, kannte mich nicht, erkannte mich nicht, sprach mich trotzdem an. Ich sehe so sportlich aus, ob ich schon mal Rollstuhlbasketball gespielt hätte. Ein paar wenige Male hätte ich es ausprobiert, antwortete ich. Er fand, ich müsste unbedingt in die Mannschaft kommen, ich würde das mit Sicherheit gut können und sie bräuchten noch Verstärkung. Vor allem weibliche. Der Typ war Mitte 40. Meine Kommilitonin und ich wurden eingeladen, mit der Mannschaft nach dem Spiel noch ein Bier zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen.

Ich habe nie ernsthaft überlegt, in diese Mannschaft zu gehen. Über hundert Kilometer zum Training, für eine Sportart, wo harte Bälle fliegen, wo man mit Rollstühlen zusammenscheppert und umfällt – nö. Nicht mein Ding. Es ist meine persönliche Entscheidung, lieber als Einzelsportlerin unterwegs zu sein. Und trotzdem ging ich mit dieser Mannschaft in ein Restaurant und quatschte ein wenig. Meine Kommilitonin bekam gleich erzählt, dass auch Fußgänger mitspielen könnten. Und mitten in der anfangs sehr angeregten Unterhaltung kippte plötzlich die Stimmung so sehr, dass wir ziemlich schnell in Aufbruchstimmung kamen und später im Zug nach Hause auch eine Zeitlang nichts mehr sagten.

Ich habe lange überlegt, ob ich darüber schreibe. Aber es will mir einfach nicht aus dem Kopf. Die Geschichte von einem Mann, Mitte 30, der wegen einer Querschnittlähmung im Rollstuhl sitzt und auftrat wie ein König. Als gehörte ihm die Welt. Anfangs fand ich das noch irgendwie spannend, mit welcher Sicherheit er von sich selbst und seinem Leben sprach. Ziemlich bald, nämlich als er mich fragte, warum ich im Rollstuhl sitze, ich ihm meine Geschichte erzählt hatte und nachfragte, woher er seinen Querschnitt hatte, war ich völlig perplex. Er erzählte mir, er habe sein Auto in suizidaler Absicht in den Gegenverkehr gelenkt. Leider -aus damaliger Sicht- sei nur eine Querschnittlähmung dabei heraus gekommen.

Ich wusste, dass diese Frage ungeheuer großen Zündstoff liefern würde, konnte sie mir aber nicht verkneifen: „Und dein Unfallgegner?“

Er antwortete so beiläufig als hätte ihn jemand nach der Uhrzeit gefragt: „Tot. Ein Familienvater auf dem Weg zur Arbeit.“

Ich guckte ihm in die Augen. Und sah Gleichgültigkeit. Die mich wiederum veranlasste, nachzufassen. Einfach weil ich hoffte, mich zu täuschen. Ich sagte: „Ach herrje.“ – Und musste gar nicht weiter reden. Er unterbrach mich quasi mit einem Schulterzucken: „Die Versicherung hat gezahlt.“

Ich konnte das noch immer nicht glauben. Ich hakte nochmal nach: „Hat was gezahlt?“ – Er antwortete: „Na, die hinterbliebene Familie hat ein Schmerzensgeld bekommen von meiner Versicherung.“

Ich bohrte noch weiter: „Und du?“ – „Ich nicht. Ich hab nichts bekommen von meiner Versicherung. Ich war gegen Unfälle aber auch nicht versichert. Damals.“

Wollte der mich provozieren? Ich redete weiter: „Das wäre ja aber auch gar kein Unfall gewesen. Das meinte ich aber auch nicht. Ich meine vielmehr, ob das nicht eine unheimliche Last ist, die jemand auf sich lädt, wenn er in ein unbeteiligtes Auto reinlenkt. Ich frage mich: Warum ein Auto und kein Brückenpfeiler?“

Er antwortete: „Die Last darf man sich nicht aufladen, sonst hat man kein Leben mehr. Die Versicherung hat gezahlt und fertig. Ich bin damals angeklagt worden wegen Totschlags, war aber wegen einer psychischen Störung nur vermindert schuldfähig. Die Richter haben meine Querschnittlähmung eingerechnet und fanden, dass ich schon genug bestraft bin. Ich musste nie ins Gefängnis. Vielleicht auch deshalb, weil es damals kaum barrierefreie Gefängniszellen gab“, sagte er und lachte. Ich guckte ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.

Er sagte dann, aus seinem Lachen raus: „Ach komm, guck nicht so böse. Oder gehörst du auch zu denen, die finden, ich hätte keinen Anspruch auf eine Rehabilitation? Keine zweite Chance? Soll ich mich deiner Meinung nach lieber nochmal umbringen, oder was möchtest du mir jetzt raten? Mit dem Auto mache ich es nicht nochmal, das musste ich versprechen, bevor ich meinen Führerschein zurückbekommen habe.“

Nein. Wie schon geschrieben, die Stimmung war so sehr gekippt, dass ich mich verabschiedete. Die Antwort auf die Frage bin ich ihm schuldig geblieben. Dafür war ich zu perplex. Aber inzwischen weiß ich sie: Jeder Mensch sollte eine zweite Chance bekommen, das denke ich schon. Und ich lasse mich auch nicht auf die „Einmal Täter, immer Täter“-Schiene lenken. Jedoch: Eine zweite Chance, so denke ich, muss man sich „verdienen“. Durch Einsicht, Reue, Umkehr, Wiedergutmachung. Wenn die Feststellung, dass die Versicherung ein paar Kröten überwiesen hat, alles ist (neben der Erkenntnis, dass die Schuld nahezu unerträglich ist), dann fällt mir dazu nur eins ein: Ich möchte mit so einem Menschen nicht in einer Mannschaft spielen.

Diese arrogante Art des Gegenangriffs finde ich tausend mal schäbiger als eine von Reue getragene Lüge, man sei besoffen am Baum gelandet. Oder ähnliches. Bäh.

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