Eine Lektion für mich

Ich möchte nicht behaupten, dass ich mich bereits eingelebt hätte. Das wird noch sehr lange dauern, vermutlich wird es auch nie so ganz geschehen. Ich vermisse Hamburg.

Die Stadt, in der ich jetzt wohne, ist sehr schön. Sehr hübsch, auch schon etwas älter, sehr gepflegt. Die meisten Menschen sind sehr nett, wenngleich sich mein erster Eindruck weiter vertieft, dass viele Menschen im Süden nicht so leicht und tief zugänglich sind wie im Norden. Oder vielleicht auf eine andere Art und Weise, die ich noch herausfinden muss.

Die übliche Anzahl schräger Leute gibt es – entgegen meiner ersten Annahme – auch hier. Während der zweiten Woche meines Praktikums gab es einige Momente, in denen ich mich gefragt habe, welchen Weg einerseits der visuelle Reiz, der entsteht, wenn jemand mich erblickt, nehmen muss,
um solchen Unsinn ungefiltert aus dem Mund schwappen zu lassen; andererseits: Was diesen Weg geprägt hat. Also was jemand erlebt oder nicht erlebt hat, um so zu denken und vor allem so zu reden.

Der Brüller war Gerda, eine Frau um die 60, die in Begleitung von Heinz in ihrem Privatpatienten-Zweibettzimmer saß und auf die Aufnahme wartete. Sie kam nicht als Notfall, sondern wollte sich durchchecken lassen und, wie jedes Jahr, an einer Ernährungsberatung teilnehmen. Gerda hatte Probleme mit ihrem Diabetes. Oder vielmehr hatte Gerdas Bauchspeicheldrüse Probleme mit Gerdas Ess- und Bewegungsgewohnheiten, so dass das entstanden ist, was der Mediziner Diabetes nennt. Und das machte wiederum Gerda Probleme, denn spritzen wollte sie sich nicht, und
nur mit Tabletten eingestellt bestand ihr Blut hauptsächlich aus Zucker. Kein Wunder, wenn man den mit steigendem Blutzucker immer weiter
zunehmenden Durst mit Cola und Brause stillt… Oder anders ausgedrückt: Dass ihr Teststreifen-Messgerät nur noch „HI“ schreibt, was weniger eine
Begrüßung, sondern mehr das Verlassen des Messbereichs nach oben anzeigt, sollte möglichst noch vor dem unmittelbar bevorstehenden Koma korrigiert werden. Erzählt hat sie davon erst, nachdem ich sie mit einem
Blutzuckerwert von über 1.000 konfrontierte. Ihr privates Messgerät steige bei 600 aus und schreibe dann nur noch „HI“, was sie für eine Fehlfunktion gehalten habe.

Zunächst aber zweifelte sie an meiner Fähigkeit, den Blutzucker richtig zu bestimmen und vor allem richtig zu bewerten. Ich meine, das ist ihr gutes Recht, immerhin bin ich nicht approbiert und habe damit erstmal nicht mehr zu melden als die Kollegin, die den Wischwagen vor sich herschiebt. Dennoch: Irgendetwas muss mir meine Anleiterin schon zutrauen, wenn sie mich solche Dinge zunächst alleine machen lässt. Insofern war der Befehl von Gerda etwas unangemessen: „Das kann ja gar nicht sein, ich habe es hierher geschafft, warum sollte ich ausgerechnet
im Krankenhaus gleich umfallen? Holen Sie jetzt mal einen richtigen Doktor, am besten einen ohne Rollstuhl. Auf diese Spielchen hier habe ich keine Lust mehr.“

Also ging ich meine Anleiterin suchen und fragte sie: „Können Sie mal
bitte kommen? Die Patientin möchte ihren Blutzucker über 1.000 von einer Approbierten ohne Rollstuhl erklärt bekommen.“

Und während sie sich (ohne Rollstuhl) auf den Weg machte, zog mich der Oberarzt zur Seite. „Sie sagen das mit einem gewissen Unterton. Das ist das gute Recht der Patientin und Ihr Ton erzeugt hier schlechte Stimmung. Das möchte ich nicht. Jeder Patient ist etwas besonderes und kommt nicht ohne Grund zu uns ins Krankenhaus. Wir nehmen seine Wünsche und Bedürfnisse ernst. Und ‚wir‘ meint auch ‚Sie‘, haben Sie mich verstanden?“

Ich dachte mir so: Nö. Gewiss nicht. Und antwortete eben auch genau so: „Verstanden habe ich Sie, ja. Was schlagen Sie vor, was kann ich tun, damit ich mich als Studentin auch ernst genommen fühle?“

Er guckte mich mit großen Augen an und polterte los: „Sie stecken erstmal Ihren Kopf ins Gras und fressen Scheiße. Und wenn Sie sich einen
guten Ruf herausgearbeitet haben, dann dürfen Sie von mir aus auch erste Starallüren entwickeln. Also so in 15 bis 20 Jahren. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe keine Zeit für diesen Quatsch. Wenn Sie als Behinderte diesen Job machen wollen, darf Ihre Behinderung auch nicht im Wege stehen. Und das tut sie in dem Moment, wo Sie sich daran aufgeilen, dass Patienten aus einer Unsicherheit heraus Sie ablehnen. Das wird Ihnen immer wieder passieren, darauf müssen Sie sich gefasst machen, wenn Sie im Rollstuhl sitzen. Oder, wenn Sie das nicht können, dann wählen Sie einen anderen Beruf. Im Schockraum kann ich auch
nicht über ein tätowiertes Hakenkreuz auf der Brust debattieren, nur weil meine jüdischen Großeltern von den Nazis hingerichtet wurden. Sie machen Ihren Job ohne Ansehen der Person und fertig, oder Sie haben hier
nichts verloren.“

Scheiße fressen? Aufgeilen? Habe ich das nötig? Nein. Ich holte zum Gegenschlag aus. „Nur dass das Hakenkreuz im Schockraum in der Regel nicht mit Ihnen spricht und sagt, es wolle nicht von einem Juden behandelt werden. Glauben Sie wirklich, dass Sie dann cool bleiben würden?“ – Er hob seinen Kopf, guckte mit leerem Blick über mich hinweg.
Ich befürchtete schlimmstes und zog in Gedanken schon den Kopf ein. Fünf, sechs Sekunden vergingen. Dann guckte er mich wieder an und sagte:
„So habe ich noch nie darüber nachgedacht. Nein, dann würde ich vermutlich nicht cool bleiben. Aber auch wenn ich Sie vielleicht verstehen kann, ich will Ihren Zynismus hier nicht haben. Fragen Sie künftig die Kollegin, ob Sie Ihre Patientin bitte übernehmen kann, Sie kämen nicht miteinander klar. Geben Sie der Kollegin die Chance, unvorbelastet in das Gespräch zu gehen. Wir therapieren hier Krankheiten
und keine … keine … Sie wissen schon.“

„Starallüren?“ – „Die Patientin darf sie haben. Ich auch. Sie nicht. Das müssen Sie lernen, sonst überleben Sie in diesem System nicht.“ – „Nun sagen Sie mal selbst: Krankes System, oder?“ – „Machen Sie sich darüber nicht zu viele Gedanken. Funktionieren Sie. Sonst schaffen Sie später Ihren Alltag nicht.“

Er eilte aus dem Dienstzimmer. Aha. Lektion gelernt?

Hinter der Tür stand ein Pfleger, Mitte 50, den ich erst jetzt entdeckte. Er war gerade damit beschäftigt, etwas in einer Akte zu notieren. Er gab der Tür mit dem Kugelschreiber einen minimalen Stups, so dass sie ein Stück weiter zufiel, verbeugte sich dann minimal vor mir
und machte mit einer Hand am Kopf eine Geste, als lüftete er einmal seinen (nicht vorhandenen) Hut. Ich guckte ihn mit einem verschmitzten Grinsen an. Er sagte: „Lass dir hier bloß nichts gefallen, Mädchen. Du bist schon goldrichtig, so wie du bist.“

Doch keine Lektion gelernt. Hmpf.

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