Im Moment ist vorlesungsfreie Zeit. Außer zur Entspannung sollen die Tage auch genutzt werden, um einige Hausarbeiten zu schreiben. Und, was natürlich nie schadet, für praktische Erfahrung. Marie und ich hatten bis kurz vor ein Uhr nachts noch ein Video geguckt – in den Semesterferien muss man ja nicht früh aufstehen. Eigentlich. Wenn allerdings drei Angestellte von Maries Mutter spontan mit fiebrigem Atemwegsinfekt im Bett bleiben, die vierte Assistentin sowie eine bedarfsweise eingesetzte Minijobberin im Urlaub ist, so dass am Ende nur
eine andere Minijobberin, die aber schon im Rentenalter ist, übrig bleibt, kann die Nacht schonmal vorzeitig enden. Selbstverständlich helfen wir. Marie ist da relativ routiniert, sie schmeißt mitunter auch mal einen ganzen Vormittag alleine die komplette Empfangstheke, ohne dass der Laden baden geht.
Heute vormittag verschärfte die Situation dadurch, dass in dieser Woche zwei der umliegenden Hausärzte ihre Praxis geschlossen haben und Maries Mutter beide vertreten muss. So machte sie sich auf einen langen Arbeitstag gefasst, während Marie hinter der Theke hin und her rollte, ich mich vorwiegend in einem super eingerichteten Labor wohlfühlen durfte und eine rüstige Rentnerin, bis vor drei Jahren noch in Teilzeit bei Maries Mutter beschäftigt, als Mädchen für alles an einem Tag mehr Kilometer abriss als an einem Wochenende im Wanderverein – nach ihren Worten. „Haben Sie einen Termin?“ – „Nein.“ – „Sind Sie ein Notfall?“ – „Nein.“ – „Dann kann ich Ihnen um 14 Uhr 20 etwas anbieten.“ – „Kann ich
warten?“ – „Sie können warten, aber Sie kommen nicht vor 14 Uhr 20 dran.“ – „Das ist ja erst in über sechs Stunden!“ – „Ja, wir sind für die nächsten sechs Stunden absolut ausgelastet.“ – „Was für ein Saftladen.“ – „Nein, den selbst gemachten Apfelsaft gibt es eine Straße weiter bei …. Aus eigener Ernte. Sehr lecker! Rechts raus und vorne an der Kreuzung nochmal rechts, dann sieht man es schon.“
Auch klasse: „Mein Name ist …, ich muss zum Arzt.“ – „Haben Sie einen
Termin?“ – „Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden, ich muss dringend zum Arzt.“ – „Also sind Sie ein Notfall?“ – „Sind Sie der Arzt?“ – „Nein.“ – „Dann sind Sie schwer von Begriff. Holen Sie den Arzt
her, aber flott.“ – „Einen Moment bitte.“ – „Flott, habe ich gesagt.“ –
„Einen Moment bitte.“ – „Sie sollen da jetzt nicht schreiben, sondern den Arzt holen!“ – „Ich schreibe dem Arzt.“ – Zwei Minuten später kommt Maries Mutter nach vorne gelatscht: „Was ist hier los?“ – „Ich brauche dringend [ein bestimmtes Mittel gegen Erbrechen], ich fahre morgen in den Urlaub.“ – Maries Mutter geht zur Tür und hält ihm diese auf: „Da kann ich Ihnen nicht helfen. Guten Tag.“ – „Sind Sie die Ärztin hier?“ –
„Unser Gespräch ist beendet.“ – „Sie müssen mir [ein bestimmtes Mittel gegen Erbrechen] aufschreiben, das ist mein Recht.“ – „Sie haben sich in
der Tür geirrt. Jetzt sehen Sie zu, dass Sie raus kommen, ich habe zu tun.“ – Der Typ geht raus, geht über den Parkplatz, holt sein bestes Stück raus, uriniert gegen die Hauswand, steckt sich einen Finger in den
Hals, reihert sein Frühstück, vermutlich Dosenbier und Dosenfisch in Tomatensoße eingelegt, auf den Weg, kommt wieder rein. Natürlich ohne die Hände gewaschen zu haben. Marie: „Setzen Sie sich einen Moment hin, Sie sind als nächster dran.“ – Er setzt sich hin und wartet brav auf … die Polizei. Auf wen wohl sonst. Und die kannte ihn schon. Zumindest ergab die Abfrage über Funk, dass der Strafvollzug Sehnsucht nach ihm hatte. Manchmal hat es Vorteile, im Rollstuhl zu sitzen, denn die schönste Aufgabe bekam die Kollegin im Rentenalter: „Nimm mal bitte einen Gartenschlauch und spül die Sauerei da draußen weg. Wenn es geht, so, dass danach hier nicht alles schwimmt.“
Zwei ältere Damen, die Maries Mutter als Vertretungsärztin aufsuchten, mussten wegen innerer Krankheiten direkt aus der Praxis ins Krankenhaus. Für einen Mann bestellten wir nach Erstversorgung einen weiteren Krankenwagen: Er hatte sich beim Gartenumgraben ernsthaft im Gesicht (laterale Mittelgesichtsfraktur, zum Glück ohne Beteiligung des Auges) und am Fuß verletzt, als er mit Gummistiefeln auf eine am Boden liegende Harke getreten war – wer auch immer den Rechen mit den Zinken nach oben hingelegt hatte, das war nicht seine beste Idee.
Eine Frau in meinem Alter kam in die Praxis, brauchte eine Wiederholungsverordnung für ein bestimmtes Medikament. Als sie bei ihrer
Praxis angerufen hatte, stellte sie fest, dass ihr Arzt im Urlaub war. Ich kannte sie: Sie war mal mit mir zusammen zur Schule gegangen. Vor meinem Unfall. Nicht in dieselbe Klasse, aber in denselben Jahrgang, und
als ich den Namen las und das Gesicht dazu sah, erinnerte ich mich an sie. Allerdings erinnerte sie sich offensichtlich nicht an mich. Ich habe einen Moment lang überlegt, ob ich sie darauf ansprechen sollte, entschied mich dann aber dagegen.
Kurz vor Feierabend, es war bereits halb acht Uhr abends, kam ein Nachbar rein. Selbiger, der zusammen mit seiner Frau auch regelmäßig den
Pool in Maries Garten mitbenutzt. Er sagte zu Marie: „Meine Frau sagt, unsere Nachbarn arbeiten sich noch zu Tode. Das ist ja alles nicht mehr normal. Wir werfen jetzt den Grill an und ihr seid alle eingeladen. Nach
so einem Tag wird nicht mehr gekocht. Wir haben alles da, Fleisch, Würstchen, Salat, ihr braucht euch nur noch hinsetzen und genießen.“ – Die Einladung nahmen wir natürlich gerne an. Und saßen bis abends um halb zwölf auf der Terrasse und im Wintergarten und freuen uns nun auf einen neuen Tag, der mit Sicherheit nicht viel anders wird. Obwohl ich mich viel lieber feiern lassen würde als fremden Leuten die Venen zu punktieren oder Teststreifen in Urinbecher zu stecken. Aber man kann ja nicht alles haben.