Es war ein schöner Tag. Ich habe selbstverständlich auch an meinem Geburtstag in der zur Zeit völlig überlasteten Praxis von Maries Mutter ausgeholfen. Ich habe Marie und ihre Eltern abends zu einem Italiener eingeladen. Das Essen war sehr lecker, aber nach dem Grillen beim Nachbarn gestern muss ich langsam aufpassen, dass ich nicht zunehme. Ein
wenig Sport wäre mit Sicherheit mal wieder von Vorteil. Nein, ich würde
auch mit zehn Kilogramm mehr auf den Rippen noch nicht das Idealgewicht
verlassen haben und ich futter beim Grillen ja auch nicht drei Stücke Fleisch, sieben Bratwürste und eine halbe Schüssel Kartoffelsalat – aber
ich vermisse mein Handbike, meinen Rennrolli und das Wasser! Ich komme in letzter Zeit kaum zum Trainieren, und dabei möchte ich so gerne noch an einem Triathlon teilnehmen in diesem Jahr.
Von Marie bekam ich zum Geburtstag außer einem dicken Kuss auch noch einen Badeanzug geschenkt. Das hat inzwischen Tradition, wir schenken uns gegenseitig Badeanzüge, von denen man, wenn man ernsthaft Schwimmtraining macht, nie genug haben kann. Und endlos halten sie ja, entgegen aller Versprechen der Hersteller, auch nicht. Von Maries Eltern
bekam ich eine Umarmung und viele gute Wünsche sowie einen selbst gebackenen Kuchen mit ganz vielen Kerzen. Ich habe mich sehr darüber gefreut und mich bei ihnen mit einem Fotobuch bedankt, in dem ich einige
schöne Bilder aus dem letzten Jahr zusammengestellt hatte. Endlich bin ich mal dazu gekommen.
Als Marie und ich abends ins Bett gingen und die Decken zurück schlugen, lagen dort zwei Briefumschläge. Für jeden einen. Ich wäre fast
im Erdboden versunken, als ich den Umschlag öffnete. In dem Umschlag war eine Bahncard. Es handelte sich allerdings nicht um eine 25er oder 50er Bahncard, über die ich mich schon sehr gefreut hätte, sondern um eine 100er. Also eine Jahreskarte für ganz Deutschland – Preis: Rund 4.000 Euro. Was für ein Wahnsinn! Jetzt weiß ich, wofür Maries Mutter kürzlich ein Passbild von mir brauchte.
Dabei war ein Brief. In meinem Brief stand: „Liebe Jule, sie war teuer, sie hat einen hohen Wert, aber sie ist bezahlbar. Unbezahlbar und
unendlich wertvoll seid Marie und Du. Es ist uns wichtig, dass Ihr niemals aus finanziellen Gründen darauf verzichtet, nach Hause zu kommen. Dass Ihr niemals mit dem Auto fahrt, wenn Ihr nach einer Woche voller Strapazen müde und abgeschlagen seid. Oder wenn Schnee und Eis die Straßen plötzlich glatt und rutschig machen und so kurzfristig keine
Frühbucher-Tickets mehr zu bekommen sind. Nutzt die Stunden im Zug für gemeinsames Arbeiten, für Entspannung, Schlaf oder einen langen Blick aus dem Fenster. Wir sind immer für Euch da. Alles Liebe zu Deinem 22.!“
Ich habe Marie angeguckt, die mindestens genauso perplex war. Und dann habe ich tatsächlich an meinem Geburtstag angefangen zu weinen. Nicht wegen der Bahncard. Sondern wegen des Briefs. Es mag Leute geben, die das kitschig oder was-auch-immer finden, aber meinen Nerv haben die beiden getroffen. Eine wunderschöne Message, dass sie mich „unbezahlbar und unendlich wertvoll“ finden. Dass Marie und ich niemals abwägen sollen, ob es sich „lohnt“, also ob es wirtschaftlich ist, nach Hamburg zu fahren. Dass sie uns wohlbehalten zurück haben möchten. Dass sie immer für uns, also auch für mich, da sein wollen. Sehr bewegend.
Und noch etwas anderes steht in dem Text zwischen den Zeilen, denn man hätte ja auch schreiben können, dass eine Bahncard verschenkt wird, damit wir nie über Geld nachdenken müssen, wenn wir studieren wollen. Stattdessen ist es ein Angebot, jederzeit nach Hause zu kommen. Dieser Brief ist beispielhaft für ihr Verständnis, ihren Sanftmut, ihren Blick,
mit dem sie Marie und mich so wie wir sind akzeptieren, und in dem, was
wir tun, bestärken, nicht dreinreden, sondern immer wieder die Hand reichen, um selbst da, wo noch nichts wackelt, fest im Stuhl zu sitzen. Ohne sich dabei aufzudrängen, ohne sich vorzudrängeln. Sondern aus dem Hintergrund und mit ganz viel Liebe.