Verbremst

Da fahre ich nach langer Zeit mal wieder mit der Hamburger S-Bahn und werde prompt Zeugin einer Vorstellung, wie sie besser im Theater nicht hätte sein können. Dass andere Fahrgäste laut telefonieren, ihren stinkenden Döner essen, quer auf drei Klappsitzen liegen und schlafen, laut Gitarre, Akkordeon oder Geige spielen, Zigaretten oder Joints rauchen, sich prügeln, sich übergeben, in die Ecke pinkeln, gegen den Türknopf rotzen, gegen Scheiben niesen, überall mit Spray und Lackstiften rummalen, Fenster zerkratzen, Sitze aufschlitzen, im Takt springen, die Mülleimer durchsuchen, um Geld oder Lebensmittel bitten, sich nackt ausziehen und vögeln, Turnübungen an den Haltestangen machen …
das ist alles normal und würde mich nicht sonderlich aus der Fassung werfen.

Dass S-Bahnen hin und wieder auch mal falsch fahren, ist auch kein Geheimnis. Eine Weiche falsch gestellt – schwupps fährt die S1 auf der Linie der S3 und alle gucken doof aus der Wäsche. Besonders lustig wird es, wenn dann alle aussteigen müssen, denn mitunter ist der „falsche“ Bahnhof nicht barrierefrei. Egal, auch das ist nicht das Thema.

Sondern: Der Zugführer hatte sich verbremst, wie er selbst sagte. Es fahren in Hamburg Kurz-, Voll- und Langzüge mit einer, zwei oder drei Einheiten (zu je drei Wagen). Das heißt: Der kürzeste S-Bahn-Zug ist drei Waggons lang, der längste neun. Nun gab es einen Fahrerwechsel und an der nächsten Station hat der neue Fahrer an der Haltemarke des Kurzzugs gehalten, obwohl es sich um einen Vollzug handelte. Da die Haltemarke des Kurzzugs vor der des Vollzugs ist, kamen nun die letzten anderthalb Waggons außerhalb des Bahnsteigbereiches zum Halten. Die Türen gingen auf und – oh Schreck – kein Bahnsteig war da. Sondern lediglich ein 1,50 Meter hoher Abgrund. Im Dunkeln nicht ungefährlich, wenn da einer in den Schotter fällt!

Eine Frau mit Gehwagen, recht rüstig, ich habe sie mal auf über 80 geschätzt, möglicherweise war sie auch bereits über 90, öffnete die Tür und staunte einen Moment lang nicht schlecht. Sekunden später drückte sie auf den neben der Tür angebrachten Notrufknopf. Kurz danach meldete sich der Zugführer über Lautsprecher: „Sie haben den Notruf gedrückt. Brauchen Sie Hilfe?“ – Es wurde still im Wagen und selbst derjenige, der
das eigentliche Problem noch nicht mitbekommen hatte, lauschte aufmerksam.

Die Seniorin sprach mit lauter und deutlicher Stimme ohne eine Miene zu verziehen zurück: „Hallo? Kapitän? Kannst du dein Schiff mal eine halbe Länge vorziehen, damit wir hier hinten auch noch an Land kommen?“ –
Der ganze Wagen grölte. Bei dem Lärm war nicht zu verstehen, was geantwortet wurde. Nur dass er sich verbremst hätte. Die Türen schlossen
sich wieder. Einige Leute waren aufgestanden, um der Frau zu helfen. Während der gesamte Zug in Kriechgeschwindigkeit einige Meter vor fuhr, fragte ein Mann mit Kölner Dialekt, geschätzt 30 Jahre alt: „Sie sind bestimmt mal zur See gefahren, oder?“ – Sie guckte den Mann an, musterte
ihn von oben bis unten. Dann tätschelte sie ihm die Wange und sagte: „Nee, mein Junge, aber ich bin trotzdem eine waschechte Hamburger Deern.
Tschüss und danke für deine Hilfe.“

Wie ich diesen Humor liebe. Wie habe ich ihn vermisst.

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