Ich mag keine pathetischen Beiträge. Noch weniger, wenn es dabei um
den Tod geht. Aber manchmal schreibt das Leben Geschichten, die einfach
nicht sachlich erzählt werden können. Schon gar nicht, wenn sie mich seit Tagen beschäftigen.
Ein noch gar nicht so alter Mann, in den mittleren Vierzigern, geschieden, zwei erwachsene Kinder, kommt mit Handy am Ohr in Anzug, Krawatte und mit polierten Schuhen in die Notaufnahme, weil ihn unerträgliche Leibschmerzen plagen. Das war vor rund zwei Wochen, ich war nicht dabei, bekam es nur erzählt. Quasi noch während des Ultraschalls versuchte er, am Handy Meetings zu verlegen. Verantwortung habe er, für viele Menschen. Auf einen Harnleiterstein wurde zunächst getippt, doch ziemlich schnell stellte sich heraus, dass es der Darm war, der ihm Probleme machte.
Man vermutete ziemlich rasch Darmkrebs als Ursache des Übels und wollte ihn für den übernächsten Morgen zu einer Operation einbestellen. Er versuchte, den Termin noch um eine Woche zu verschieben, fügte sich unter dem Eindruck seines angeschlagenen Gesundheitszustandes aber doch.
Ich war am nächsten Tag bei der Aufnahmeuntersuchung und dem OP-Vorgespräch dabei, lernte ihn da erstmals kennen. Während zunächst der Internist, dann der Chirurg das Gespräch mit ihm führte, saß ich im Hintergrund. Er flirtete mit mir, beschäftigte sich mehr mit mir als mit
seinem Gesprächspartner. Ihn schien sein Gesundheitszustand überhaupt nicht zu interessieren. Das ganze Spektakel wirkte auf mich eher befremdlich. Am Ende sprach er mich noch auf dem Flur an, ob ich bald fertig werden würde mit meinem Studium, wieviel Zeit ich noch aufzubringen hätte und ob ich nicht nur aus technischen Gründen eine andere Perspektive auf die Patienten hätte. Er könne sich vorstellen, dass ein Mensch mit Behinderung die Welt ganz anders sehe als ein gesunder Mensch.
Bei der Operation stellte sich heraus, dass da nichts mehr zu retten ist. Bauch auf, einmal reingeguckt, Bauch sofort wieder zu. Ich war nicht selbst dabei. Sachliche Einzelheiten erspare ich mir. „Keine vier Wochen mehr“, lautete die Prognose des Kollegen. Ich hatte mit dem Mann danach nicht mehr zu tun, er wurde auf eigenen Wunsch entlassen.
Am letzten Dienstag wurde er erneut aufgenommen, dieses Mal mit Kreislaufproblemen. Das bekam ich nicht mit, allerdings sprach mich plötzlich meine Professorin an, dieser Patient hätte nach mir verlangt. „Er würde sich gerne von Ihnen verabschieden“, sagte sie. Und fragte: „Kennen Sie ihn näher?“ – Ich schüttelte den Kopf. Sie antwortete: „Dann
würde ich Ihnen davon abraten. Das klingt nach einer emotionalen Kiste und einem Fall für die Seelsorgerin.“ – „Wenn es aber sein Wunsch ist?“,
fragte ich. Sie überließ die Entscheidung mir.
Ich klopfte an die Tür seines Einzelzimmers. Er bat mich herein. Er war nicht wiederzuerkennen. Eingefallen, blass, krank. Totkrank. War an Geräte angeschlossen, hatte einen Sauerstoffschlauch unter der Nase und war so klapprig, dass er nicht mal seine Tasse halten konnte. „Sie wollten mich sprechen?“, fragte ich. Er bat mich, neben seinem Bett Platz zu nehmen. Ob ich einen Moment Zeit für ihn hätte, wollte er wissen. Ich zuckte mit den Schultern. Er begann, mir lauter krauses Zeug
zu erzählen. Von korrupten Managern und Regierungsbeamten, die alle schwul seien. Er wollte wissen, ob ich eine Lesbe sei. Ich verneinte das. „Aber die Professorin ist eine Lesbe. Oder?“ – „Ich habe keine Ahnung, das habe ich sie noch nie gefragt“, sagte ich und musste ob der Vorstellung, so etwas zu fragen, lachen. Was hatte er für ein Problem mit Lesben?
„Mein Sohn ist auch schwul“, ergänzte er. „Wir haben seit Jahren nichts mehr miteinander zu tun. Weil ich zu feige war, ihm zu sagen, dass ich ihn auch mit seiner Homosexualität liebe. Dass er mir fehlt. Aber nein, ich habe ihn vom Hof gejagt und seinen Freund dazu.“ – „Sagen
sie ihm das und räumen Sie das aus“, empfahl ich ihm. Er fand, es sei zu spät dazu. Ich antwortete: „Für sowas ist es nie zu spät.“ – „Ich habe nicht mal seine Telefonnummer. Aber vielleicht können Sie ihm ja etwas aufschreiben und ihm geben, wenn Sie ihn benachrichtigen.“
Er war sich also über seinen Zustand mehr als klar. „Ich hole Zettel und Stift“, sagte ich und verschwand. Im Dienstzimmer fütterte ich eine Suchmaschine und bekam relativ schnell die Kontaktdaten des Sohnes auf den Schirm. Was ich hier machen würde, war unter Garantie in höchstem Maße gegen jede Dienstvorschrift. Ich griff zum Telefon und rief ein Unternehmen in einer rund 100 Kilometer entfernten Stadt an. Zuerst wollte man mich nicht durchstellen, als ich sagte, dass es um eine dringende familiäre Angelegenheit ging, erreichte ich dann doch mein Ziel. Ich vergewisserte mich, dass der Mann, mit dem ich sprach, sein Sohn war. Zuerst drohte das Gespräch zu kippen, denn auch der Sohn wollte nichts von seinem Vater wissen, aber als ich dann sagte, dass er im Sterben liegt und es die letzte Chance sei, miteinander zu reden, wurde er weich. Ich bat ihn: „Er ist Ihr Vater. Mitunter sind inzwischen
Sie der Stärkere. Gehen Sie einen Schritt auf ihn zu und geben Sie ihm eine letzte Chance.“
Ich rollte zurück in sein Zimmer. Er hatte sich inzwischen übergeben.
Ein widerlicher Gestank machte sich in dem Zimmer breit. Zwei Pfleger halfen mir dabei, ihn wieder bettfein zu machen, dann schlug ich den Block auf, den ich mitgebracht habe. Er wollte seine Familie wissen lassen, dass es nicht einfach sei, zu sterben. Jetzt, im Sommer, wenn draußen die Blumen blühen und die Menschen fröhlich sind, wenn das Sonnenlicht in den langen Haaren hübscher Frauen glänzt und junge Menschen am Flussufer grillen und feiern. Genau so kitschig sagte er es.
Er wollte, dass seine Tochter wisse, dass sie ihm mit ihren unregelmäßigen Anrufen stets Freude gemacht hätte. Die Freude, ihre Stimme zu hören und die Vorfreude, bald wieder mit ihr zu telefonieren.
Sie wohne in Schweden und ist dort glücklich verheiratet und hätte zwei Kinder, die ihren Opa aber noch nie gesehen hätten. Er wollte, dass
ich einen Brief an einen alten Freund schreibe, den er auch bereits seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hätte. Als sie sechs Jahre alt waren, hätten sie sich kennen gelernt und sich gemeinsam die Knie aufgeschlagen, als sie mit dem Fahrrad zusammengeprallt seien. Zum ersten Mal betrunken sei er mit ihm zusammen gewesen. Wilde Geschichten bekam ich erzählt, zum Beispiel dass er mit ihm seine erste Zigarette geraucht hätte. Und ausprobiert hätte, ob der Rauch aus den Ohren steigt, wenn er Mund und Nase schließt.
Er wollte, dass auch seine Frau einen Brief bekommt. Er war sehr kurz: „Ich wollte mit dir die Sterne erreichen. Das hat nicht geklappt. Ich wünsche Dir alles Gute.“ – Er weinte. Dann sagte er: „Können Sie nicht doch irgendwie versuchen, meinen Sohn zu erreichen? Er hat zuletzt
bei […] gearbeitet. Im Zeitalter von Social Network ist das doch bestimmt nicht schwierig.“ – „Ihr Sohn ist bereits auf dem Weg zu Ihnen“, sagte ich. Er war überhaupt nicht erstaunt, sondern fragte: „Was
soll ich ihm sagen, wenn er hier ist? Ich habe Angst vor dieser Begegnung. Zum ersten Mal in meinem Leben.“ – „Naja, sagen Sie ihm einfach das, was Sie mir vorhin gesagt haben. Bitten Sie ihn um Entschuldigung. Ich bin mir sicher, er wird Ihnen verzeihen können. Wenn
auch vielleicht nicht sofort.“ – „Es klingt zwar doof, aber könnten Sie
vielleicht dabei bleiben?“ – Unglaublich. Ich sagte: „Einen Moment lang
bleibe ich gerne dabei, aber danach sollten Sie das doch alleine hinbekommen. Innerhalb der Familie, sozusagen.“
Er erzählte mir weiter krauses Zeug. Ich holte Briefumschläge, faltete die Notizzettel und verpackte sie. Nach etwa zehn Minuten klopfte es. Der Sohn kam rein, nur leider brachte die Begegnung nicht den gewünschten Erfolg. „Was wird das hier? Warum wird er nicht operiert? Stirbt er jetzt?“, polterte er herum. Der Vater versuchte zwei, drei Mal, auf ihn einzureden. Bat ihn, ihm zuzuhören. Es hatte keinen Sinn. Der Sohn schien überhaupt keine Antenne für die Situation zu haben, schimpfte über alles mögliche, über Äußerlichkeiten, dass das Zimmer zu klein sei, ob er nicht mal einen vernünftigen Pyjama bekommen könnte und warum ich an seinem Bett säße und kein ausgebildeter Arzt. Es
dauerte keine fünf Minuten, dann verschwand der Sohn wieder. Angeblich Termindruck. Der Vater bat mich, ihn alleine zu lassen. Er bedankte sich
bei mir, drückte mir die Hand. Ich versprach ihm, die Adressen zu recherchieren und die Briefe in die Post zu geben. Rollte nach draußen und fühlte mich scheiße.
Der Stationsarzt meinte später zu mir: „Du hast alles versucht, mehr kannst du nicht tun. Es war gut von dir, aber solche Hingabe hat nur sehr selten einen Sinn.“ – In der darauffolgenden Nacht ist der Mann verstorben.