Und wieder ein Semester überstanden. Na gut, noch nicht ganz. Aber dessen Vorlesungen. Ab Oktober folgt das achte, bis dahin muss ich noch zwei sehr umfangreiche Hausarbeiten fertigstellen und einen weiteren Monat Famulatur ableisten. Dieses Mal in einer psychosomatischen Rehaklinik der Deutschen Rentenversicherung. Patienten sind dort überwiegend Menschen mit Ess-Störungen, Burn-Outs, Neurosen, … Ich bin sehr gespannt. Warum gerade das? Weil ich denke, dass mir der Kontakt zu
psychosomatischen Krankheiten mehr Sicherheit gibt, wenn es darum geht,
Patienten und ihre Symptome richtig zu verstehen. Nein, keine Angst, ich gehöre nicht zu den Menschen, die glauben, dass alle körperlichen Symptome, für die ich keine Ursache finde, psychischer Herkunft sein müssen. Aber genau diese Abgrenzung finde ich spannend. Ich möchte wirklich mehr darüber erfahren und diese Möglichkeit dazu nutzen.
Wo ich das nächste Semester studieren werde, ist noch nicht ganz sicher. Marie möchte zurück in den Norden, ich eigentlich auch. Aber ob wir beide hier oben was finden, stellt sich erst noch heraus. Vielleicht
hängen wir auch noch ein letztes „Auslands-“ Semester am aktuellen Studienort dran, es ist möglich.
Ich vermisse nach wie vor Hamburg. Und wie sehr ich Hamburg vermisse,
wird mir immer wieder an den Kleinigkeiten deutlich, die ich in Hamburg
erlebe. Wie heute in einem Bus: Eine Frau mittleren Alters steigt ein und sagt zum Fahrer: „Ich möchte gerne nach Eckernförde. Ich habe im Internet gelesen, dass ich die komplette Fahrkarte auch bei Ihnen buchen
kann.“ – Leider verstehe ich nicht, was der Fahrer sagt. Ob er sagte, er würde es ausprobieren, oder ob er sagte, dass es nicht geht, aber sich eben auch keine Beschwerde einhandeln will und deshalb nochmal genau nachsieht…
Jedenfalls steht dieser Bus mit offenen Türen, laufendem Motor und Blinker rechts auf einer Hauptstraße und vorne beim Fahrer wird gelabert. Sie hätte auch eine Bahncard. Und sie wüsste, dass nach Eckernförde auch private Bahnen fahren, ob sie die auch über ihn buchen könne. Und ob sie mit Kreditkarte zahlen kann. Der Fahrer, zwei Stationen vor der Endstation, einem großen S-Bahnhof, an dem ich meine S-Bahn kriegen wollte, hat die Situation alles andere als im Griff. Die Frau diskutiert und labert, vierzig bis fünfzig Leute im Bus warten geduldig. Mehrere Minuten lang. Und dann passiert etwas, was an meinem aktuellen Studienort wohl niemals passieren würde. Da sind sie alle viel
zu brav.
In der letzten Reihe brüllt ein Typ, 5-Millimeter-Kurzhaarschnitt, zwei Zentner schwer, orangefarbene Bauarbeiter-Latzhose, im typischen Hamburger Dialekt, tiefstes Barmbek, los: „Alder, watt isn datt fürn Zirkus da vorn?! Sind wir hier im Reisebüro oder watt?! Ich muss meine S-Bahn kriegen, du kannst doch wohl nen Fahrschein für Einsfuffzig bis zum Bahnhof lösen und frägst da den Kollegen, wie du nach Eckernförde kommst! Echtma, jetz! Du hältst hier den ganzen Betrieb auf, das muss man doch mal merken!“ – Die Frau erwidert irgendwas, von wegen dass sie keine Busfahrkarte bräuchte, wenn sie gleich bis Eckernförde lösen würde. Da springt der Mann auf und trampelt nach vorne, holt im Gehen zwei Euro aus der Hosentasche, knallt sie vorne beim Fahrer auf den Kassentisch und sagt: „Ich krieg gleich Locken! Du kaufst dir jetzt nen Fahrschein bis zum Bahnhof und die fuffzig Cent Wechselgeld, die schenk ich dir, damit kannst du später den Typen an der Auskunft bestechen, damit er dir die billigste Verbindung raussucht. Und wenn das jetzt noch
weiter Gelaber gibt, steigt hier jemand aus und geht zu Fuß, und ich versprech dir, ich bins nicht. Ich habe nämlich meine Fahrkarte vorm Losfahren gelöst. Kleiner Tipp: Solltest du nächstes Mal auch tun, erspart einem jede Menge Stress und böse Blicke!“
Dreht sich um, und während er zurück auf seinen Platz geht, applaudiert der halbe Bus. Kaum ist er auf seinem Sitzplatz angekommen, schließen sich die Türen und der Bus fährt ab. Ohne die Frau. Die hat sich entschieden, zu Fuß die beiden Stationen bis zum Bahnhof zu laufen.
Über Lautsprecher kommt die Ansage: „Mein Herr, Ihre zwei Euro liegen hier abholbereit.“ – Daraufhin brüllt der Mann nach vorne: „Die hab ich längst abgeschrieben! Kauf dir davon auf den Schreck in der nächsten Pause n Brötchen oder ne Frikadelle oder beides oder gib sie von mir aus
einem Flaschensammler, aber ich will jetze mal zügig zu meiner S-Bahn, mein Chef wartet nicht, also gib mal n büschen Gas! Mannometer!“